Das russische Ende der Welt

Russia Day celebrations
Russia Day celebrations(c) Lev Fedoseyev / Tass / picturede (Lev Fedoseyev)
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Seit das Dorf Teriberka durch den Film »Leviathan« bekannt wurde, kommen immer mehr Touristen an den Ort an der Barentssee. Kann Aufmerksamkeit seinen Verfall stoppen?

In Teriberka haben die Häuser ein Ablaufdatum. Gelbe Schilder künden auf einigen Bauten vom drohenden Aussiedlungstermin: Bis 2017 müssen die Bewohner, die noch geblieben sind, weg. Die Holzhäuser sind verwittert und wirken so baufällig, als könnte ein Windstoß sie umwehen. Teriberka, eine Ortschaft im äußersten Norden Russlands an der Barentssee, hat zu viele Wohnungen und zu wenige Einwohner.

Teriberkas Ruhm gründet auf Verfall, Ruinen sind seine Sehenswürdigkeit. Eine 120 Kilometer lange Straße von Murmansk führt hierher, 42 Kilometer davon über eine Schotterpiste. In Reiseführern findet der Ort keine Erwähnung, noch ist er ein Geheimtipp. Im Internet jedoch haben russische Blogger eine Vielzahl an Einträgen verfasst über dieses „nahe Ende der Welt“, wie einer schreibt. Über den Schiffsfriedhof, auf dem nur Holzbarken liegen, weil die Einheimischen das Metall an Schrotthändler verkaufen. Über die barsche Verkäuferin im örtlichen Kramladen. Über den malerischen Wasserfall an den Klippen der Barentssee, für dessen Besuch man eine Müllhalde durchqueren muss. Und über jene Anhöhe am Fluss, wo das Haus aus verwitterten grauen Holzplanken stand, das Teriberka berühmt gemacht hat.

Im Jahr 2014 drehte der russische Regisseur Andrej Zwjaginzew einen Film in dem Dorf an der Barentssee. „Leviathan“ erzählt die Geschichte eines Mannes, der aufgrund eines dunklen Bundes zwischen Bürokraten und Kirchenfürsten alles verliert. Seinen Sohn, seine Frau, seinen Freund und sein Holzhaus. Zwjaginzew hat den Film in Teriberka gedreht. Teriberka ist eine Metapher für die Hoffnungslosigkeit in der russischen Provinz, es steht für Beamtenwillkür, Entrechtung und eine Kirche, der gar nichts heilig ist.

Das Drama erhielt die Auszeichnung Bester fremdsprachiger Film beim Golden Globe Award und wurde bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes mit dem Besten Drehbuch gewürdigt. Innerhalb Russlands war die Rezeption ungleich kritischer. Kulturminister Wladimir Medinskij, dessen Ressort den Film finanziell unterstützt hat, war mit dem künstlerischen Resultat nicht zufrieden. Er warf dem Regisseur vor, die internationale Russlandskepsis für den eigenen Erfolg zu instrumentalisieren. Kreml-nahe Medien befanden den Film gar für antirussisch.

„Leviathan“ ist es zu verdanken, dass Teriberka bekannt geworden ist. Zu verdanken? Seither kommen Journalisten und Touristen hierher, um zu sehen, ob das Leben im dem Dorf so grausam ist wie die Geschichte im Film. Im Ort sind viele über den cineastischen Erfolg und die Folgen nicht begeistert. Teriberkas Ruhm ist von zweifelhafter Natur. Wer möchte schon entblößt werden vor den Augen der Welt?

»Wir müssen hier leben«

Auf der Hauptstraße Teriberkas, einer Rinne im dunkelgrauen Sand, ist Olga auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz im örtlichen Kulturhaus. Sie ist klein und blond und beantwortet Fragen nach den Schauplätzen des Films freundlich und gleichgültig zugleich. Der Ort, wo das Haus des Protagonisten stand? Da drüben, am anderen Ufer des Flusses. Der Schiffsfriedhof? Zu rechter Hand auf dem Weg nach Norden. Das Hotel Ter, das aufgemacht hat? Wird nicht das einzige bleiben. Die Touristen – eine Chance für Teriberka? Sie lassen Olga kalt. „Wir müssen hier leben, ob mit oder ohne Touristen“, sagt sie bestimmt.

Bisher zieht der schmale Strom der Besucher an den Bewohnern vorbei, ohne das sie von ihnen profitieren. Das neue Hotel wird von Zugereisten betrieben. Die Murmansker Reiseveranstalter bringen die Tagesbesucher in Jeeps an die See und wieder weg. Ein Restaurant gibt es nicht. „Hier gibt es keine Arbeit, keine Straßen, und die Kommunalausgaben sind hoch“, fasst Olga zusammen. „Die Besucher kommen für einen Tag und fotografieren alles ab. Das ist natürlich nett. Aber leben Sie mal hier.“

Früher lebten die Menschen in Teriberka vom Fischfang. Ihre besten Tage erlebte die Siedlung, die seit dem 19. Jahrhundert ständig bewohnt ist, in den 1940er- und 1950er-Jahren. Damals gab es im Ort zwei Fischfabriken, zwei Kolchosen und zwei Milchfarmen, einen Pionierclub, zwei Schulen, ein Internat, ein Krankenhaus und eine Poliklinik. Doch dann etablierte sich die Hochseefischerei, und die Fischverarbeitung wurde in die Großstadt Murmansk umgesiedelt.

In Teriberka schloss ein Betrieb nach dem anderen, und die Menschen zogen aus der entlegenen Siedlung weg. Seit den 1960ern nahm die Bevölkerungszahl stetig ab. Vom Spitzenwert von 5000 Einwohnern sind heute 1000 geblieben. Das Krankenhaus ist zu, die Schule ist zu, der Kindergarten ebenso. Eine Fischfabrik im Ort funktioniert, ohne Gewinn abzuwerfen. Viele Bewohner sind arbeitslos. Verbessern soll die triste Wirtschaftslage der mächtige Konzern Gasprom, der ein Gasfeld in der Barentssee erschließen will. Doch wann das sein wird, weiß niemand.
Dem Ort eine Zukunft geben möchte auch die hippe Moskauer Landwirtschaftsgenossenschaft Lavka Lavka. Die Großstädter organisieren ein Autorennen quer durch das Land an die Barentssee und dann noch ein Festival vor Ort. Wird aus Teriberka vielleicht gar noch ein Ökoreiseziel? Oder doch eine Versorgungsbasis für Gasingenieure? Wird sich der russische Staat des Ortes annehmen?

In Zwjaginzews Film ist der Staat eine unbezwingbare Kreatur, der Leviathan. Im echten Teriberka scheint er schlicht nicht vorhanden.

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