Jubiläum auf der alten Majestät

Großvenediger
Großvenediger(c) Christine Imlinger
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Großvenediger. Vor 175 Jahren wurde er zum ersten Mal bestiegen. Seither ist er zwar geschrumpft – und doch einer der beeindruckendsten Gletschergipfel der Ostalpen. Von dünner Luft, den alten Geschichten von der Expedition der Erstbesteiger und den surreal schönen Aussichten.

Vor dem Gletscher wird es plötzlich leise. Die Anfahrt im Haflinger, dem alten Geländefahrzeug, die war noch laut und lustig, der Abend davor, die Jubiläumsfeier zur Erstbesteigung vor 175 Jahren genauso, obwohl die Pinzgauer den Gästen aus dem Flachland gegenüber noch scherzten. Dass man den Venediger – mit F, wie man das hier ausspricht – ja nicht unterschätzen dürfe. Dass er sich ja nie trauen würde, sagt einer, erinnert an die riesigen Gletscherspalten, über die man mitunter auf allen vieren auf einer Leiter klettern muss, an den luftigen Grat zum Gipfel, witzelt von Hubschraubern, die man immer wieder zu Rettungseinsätzen fliegen sieht.
Da war das alles noch ein Scherz. Aber heute, auf der ersten Etappe, dem Weg zur Kürsinger Hütte über einen leichten Klettersteig, da werden plötzlich alle leise. Der Bach tost, der Anstieg durch das Gletscherkar von Fels zu Fels geht anfangs leicht dahin.
Früher, in der Zeit der Erstbesteigung, lag hier noch meterhoch Eis und Schnee. Überhaupt ist die Anreise heute ungleich gemütlicher. Ohne Haflinger-Taxi bis zur Talstation der Materialseilbahn, ohne warmer Hütte als Lager für die Nacht, ohne sicher präpariertem Klettersteig und ohne moderner Ausrüstung ist die damalige Seilschaft am 3. September 1841 angerückt. Beziehungsweise, angerückt ist die 40-Mann-Expedition schon früher, schließlich hatten sie zusätzlich rund 20 Kilometer Anmarsch von Neukirchen durch das Obersulzbachtal zu bewältigen – und der Gletscher reichte viel weiter nach unten. Die Jahreszahlen, wo er einst begann, stehen heute auf Schildern entlang des Wegs. Allein über den Gletscherschwund der eigenen Lebenszeit steigt man Stunden. Darüber mussten sich die Erstbesteiger, die sich damals auf den Weg gemacht haben, keine Gedanken machen. Vor 175 Jahren war das noch unbekanntes Land, das nie zuvor ein Mensch betreten hatte – zumindest niemand, der es für dokumentationswürdig gehalten hätte.

Hauptsache, schneller als die Wiener

In den Anfangsjahren des Alpinismus war das Besteigen der „weltalten Majestät“, wie man den höchsten Berg Salzburgs heute noch nennt, quasi patriotische Pflicht. Die Erstbesteigung des Großglockners lag schon 40 Jahre zurück, als Ignaz von Kürsinger, der damalige Rechtspfleger von Mittersill, die Erstbesteigung des Venedigers zur „nationalen Angelegenheit des Oberpinzgaus“ erklärte und via Zeitung zur Teilnahme an der Expedition aufrief. Schließlich hatten schon zuvor unter anderem junge Wiener geplant, den Gipfel zu erklimmen, denen wollte er zuvorkommen. Frühere Versuche, den Venediger zu besteigen, waren gescheitert. Im August 1928 etwa musste eine Expedition, darunter Erzherzog Johann, nach einem Lawinenabgang umkehren. Schließlich war die Besteigung damals deutlich schwieriger: Das Eis am Gipfel ist seither um rund 15 Meter abgeschmolzen, der letzten Messung nach liegt dieser heute auf 3657 Metern, die Höhe musste nach unten korrigiert werden. Das Eisvolumen beträgt Schätzungen nach heute ein Viertel dessen von 1850.
Heute gilt die Großvenediger-Tour als konditionell herausfordernd – technisch ist sie nicht schwierig. Allerdings, so Emil Widmann, der Chef der örtlichen Bergführer und Hüttenwirt, „der Berg hat seine Tücken“. Er nennt ihn „einen gutmütigen Gletscherkönig“, aber es geht ins Hochgebirge und über spaltenreiches Gletschergelände. Ohne Bergführer, Seilschaft oder gar allein zu gehen, sei streng tabu – es passiert aber trotzdem immer wieder.
Schließlich sind Hochtouren wie diese heute fast Breitensport. Allein von der Kürsinger Hütte aus, einem der drei gängigen Wege, haben die Bergführer voriges Jahr rund 550 Leute auf den Gipfel gebracht. Die Zahl hat sich innerhalb der vergangenen zehn Jahre verdreifacht. Und wenn man dann, nach dem Zwei-Stunden-Aufstieg zur Hütte, dort bei Kaspressknödeln, Livemusik und Zirbenschnaps mit Dutzenden Bergsteigern zusammensitzt, dann bestätigen das die Geschichten des Hüttenwirts. Oder wenn morgens, ab vier, halb fünf, eine Gruppe nach der anderen mit Stirnlampen unter dem beeindruckend nahen Sternenhimmel ihren Weg über Felsen zum Anseilplatz sucht.
Als Steigeisen und Sitzgurt angelegt sind, alle neun zur Seilschaft zusammengehängt sind, wird es langsam hell. Einschmieren, Sonnenbrille aufsetzen, mahnt Bergführer Manfred Reitsamer. Sepp Steiger, Chef des örtlichen Tourismusverbandes und der Bergrettung, erzählt beim Gehen die alten Geschichten. Von den Erstbesteigern, die sich noch Ruß ins Gesicht geschmiert und Netze vor die Augen gehängt haben, um in der grellen Sonne nicht schneeblind zu werden. Die Sonne ist eine der Tücken dieses Berges. Der Weg führt vorbei an Gletscherspalten, die den Blick auf Eis-Gewölbe unter der Schneedecke freigeben.
Bergführer Manfred schlägt immer wieder seinen Pickel in Eis und Schnee, prüft, ob die Schneebrücken belastbar sind. Und mahnt, schnell drüber zu steigen, mitunter zu springen, und zur Seildisziplin: Abstand halten, nie nahe beieinander gehen, man würde sich sonst mitreißen. Gleichmäßig, Schritt für Schritt im Gänsemarsch, der Gletscher und die Gipfel ringsum fangen an, im Morgenrot zu leuchten, die Luft wird dünner, je näher man der 3000-Höhenmeter-Marke kommt, das macht das Steigen anstrengender, den Puls schneller. Langsam atmen, mahnt man sich, Schritt für Schritt weiter.

Ein Berg als Mahnmal eigener Grenzen

„Warum rennt der Mensch auf den Berg?“ Mitunter kommt einem die Frage, die Landeshauptmann Wilfried Haslauer beim Jubiläums-Festakt zwei Tage zuvor gestellt hatte, in den Sinn. Was heute Sport und alltäglich ist, war damals ein Erkunden feindlicher Landschaft. „Es ist die Suche nach dem Unbekannten, dem Besonderen – und gleichzeitig eine Reise ins Innere. Die Überwindung der Angst ist eine Entdeckung des Selbst. Der Berg als Mahnmal der Schöpfung und der Begrenztheit des Menschen“, sinnierte der Landeshauptmann. Er hat, sagt er, den Venediger noch vor sich – seinen Stellvertreter, Christian Stöckl, wird man später am Gipfel treffen.
Der Aufstieg dorthin dauert viereinhalb Stunden – so steht es am Wegzeiger bei der Kürsinger Hütte. Nach gut dreieinhalb Stunden kommt man dem Gipfel näher. Am Weg steckt noch die Leiter, die man aus den Erzählungen und von schwindelerregenden Fotos kennt. Die riesige Spalte im Bereich der Venedigerscharte, auf der die Grenze zwischen Salzburg und Osttirol verläuft, ist derzeit zum Glück zu, es geht steiler den Hang hinauf, der Wind wird kälter, die Sonne intensiver – endlich ist der Firngrad da.
Und da bleibt einem richtig die Luft weg. Ob es der geringe Sauerstoffgehalt ist, die atemberaubende Aussicht oder doch der Moment, in dem man links und rechts des Grates hinunterschaut – das ist schließlich egal. Wenige Minuten durch diese surreal schöne Landschaft, man muss sich schon ermahnen, auf den Boden zu schauen, auch die letzten Schritte mit Bedacht zu gehen. Gipfelsieg! Umarmungen, Gratulationen, Erleichterung.
„Hoch lebe das Haus Österreich! Hoch lebe die ganze Gesellschaft! Nun war er erstiegen, der Großvenediger!“, soll Kürsinger vor 175 Jahren auf dem Gipfel gerufen haben, bevor eine Fahne in den Salzburger Landesfarben gehisst wurde. Das solle fortan auch jeder nach ihm, der diesen Gipfel erreicht, rufen, wurde es überliefert. So pathetisch halten wir es aber nicht. Blickt man dann um sich – die Ortskundigen erklären die Sicht, zu den drei Zinnen und dem Ortler in Südtirol, zum Watzmann in Bayern, zu den Ötztaler Gletschern oder über den Dachstein (bis nach Venedig, wie man einst dachte, aber nicht), da kann man dann den Pathos der Erstbesteiger glatt nachvollziehen.

Touren und Tipps

Drei Touren. Die klassische Route der Erstbesteiger führt über einen normalen Hüttenzustieg oder einen einfachen Klettersteig zur Kürsinger Hütte, von dort zur ca. 4,5-stündigen Hochtour auf den Gipfel. Von Osttiroler Seite führt der Weg über Hinterbichl zur leicht erreichbaren Johannishütte auf 2121 Meter, dort über das Defreggerhaus (2963 Meter) bis zum Gipfel. Die dritte Tour führt vom Parkplatz Matreier Tauernhaus über die Neue Prager Hütte (2796 Meter) auf den Großvenediger.

Achtung. Technisch gelten die Touren als einfache bis mittelschwere Hochtouren. Begehung nur mit guter Kondition, Gletschererfahrung, Schwindelfreiheit und Trittsicherheit. Von einer Begehung ohne Seilschaft bzw. Bergführer ist absolut abzuraten. Info: Bergführerbüro Neukirchen www.bergfuehrer-buero.at

Nacht in der Hütte. In der Kürsinger Hütte kostet eine Nächtigung für Alpenvereinsmitglieder 14 (im Mehrbettzimmer) bzw. 11 Euro (Lager), Nichtmitglieder zahlen 29, bzw. 23 Euro. In der Neuen Prager Hütte kostet AV-Mitgliedern eine Nacht 13 (Zimmer) bzw. 10 Euro (Lager), Nicht-Mitglieder zahlen 23 bzw. 20 Euro.

Nacht und Essen im Tal. Z. B. im Vierstern-Wanderhotel Gassner in Neukirchen am Großvenediger, im Hotel Hubertus (ebenfalls vier Sterne, ebenfalls Neukirchen am Großvenediger) oder im Familienhotel Grundlhof im nahen Bramberg am Wildkogel.

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