Bauboom: Berlin sucht sein Zentrum

Baustelle des Berliner Stadtschlosses
Baustelle des Berliner StadtschlossesImago
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Die deutsche Hauptstadt will im 21. Jahrhundert ein historisches Stadtzentrum erschaffen. Der Bauboom in Mitte blendet dabei ein Jahrhundert Geschichte aus.

Es soll anknüpfen an die Tradition der Berliner Salons des 19. Jahrhunderts: das Palais Varnhagen. Vom Dach des Rohbaus in Kürze die Dachterrasse des Penthouse des von David Chipperfield entworfenenen Palais in der Französischen Straße in Berlin hat man einen umwerfenden Ausblick auf die Landmarks der deutschen Haupstadt: die Domkuppeln des Gendarmenmarkts, Fernsehturm, IHZ, Charit. Das Neubaupalais ist benannt nach Rahel Varnhagen. Für ihre literarischen Salons in den 1820er-Jahren lud sie ebenfalls in die Französische Straße, allerdings zu einer anderen Hausnummer. Beim Immobilienprojektentwickler reichte die Nachbarschaft für den Verkaufsaufhänger: Varnhagens Geist soll eben jetzt ein paar Häuser weiter spuken. Wilhelm und Alexander von Humboldt, die Familie Mendelssohn, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Heinrich Heine Gäste der Varnhagen am besten gleich mit, Preußen in Reinkultur. Dass da draußen einmal das Zentrum des Dritten Reiches lag, und dass da draußen, ein paar Blocks weiter, bis vor 26 Jahren zwischen Brandenburger Tor und der Straße des 17. Juni eine Mauer verlief das geht in der Marketingerzählung unter.

Die Immobilienbranche ist gerade dabei, der deutschen Hauptstadt ein neues Zentrum zu bauen. Der Umgang mit der Geschichte der Metropole im Berliner Städtebau wird dabei schon länger öffentlich kritisch gesehen spätestens seit dem Abriss des Palasts der Republik, der bis 2008 ein Mal der DDR-Zeit inmitten der Stadt war. Auf diesem zentralen Flecken zwischen Pariser und Alexanderplatz, gegenüber der Museumsinsel, entsteht seit 2013 der Nachbau des ursprünglichen Stadtschlosses, das nach Bombenschäden aus dem II. Weltkrieg auf den (umstrittenen) Beschluss der DDR-Volkskammer hin abgetragen worden ist. In den 1970er-Jahren baute man dort schließlich den Palast der Republik als öffentliches Gebäude der DDR-Politorgane. Dass an dieser prominenten und politisch aussagekräftigen Stelle nun ein Nachbau eines Prunkstücks des königlichen Berlins entsteht, gilt für viele Beobachter als rückwärts gedacht.

Easyjet-Tourismus

Der Immobiliensektor scheint sich in der Frage der Gestaltung des historischen Berliner Zentrums immer wieder den entscheidenden Ruck gen 1800 zu geben. Gegenüber dem Rohbauschloss, am Schinkelplatz, wird gerade ein Apartmentkomplex am Spreekanalufer gebaut, der mit seiner Lage im "neu entstehenden Zentrum" angepriesen wird. "Von Preußen nach Europa" ist der Werbespruch der Anlage. Dass sich gerade Berlins Struktur aber allein historisch bedingt über den Dorfcharakter der Stadtteile ergibt, wird bei der Planung der Neubauten im Stadtbezirk Mitte gern außer Acht gelassen. Die Touristen kommen immerhin nicht allein nach Berlin, um sich dort vor Sehenswürdigkeiten zu fotografieren; vielmehr, um noch ein letztes Stück von den magischen Berliner 1990er-Jahren aufzuschnappen, als die Mauer weg und in der Stadt alles offen war. Eine Zeit, die den neuen Gesamtberlinern Raum ließ, sich zu entdecken, in heruntergekommenen Altbauten, leer stehenden Gewerbehallen.

Die Technoszene erblühte (Überbleibsel deren Authentizität sind bei Berghain-Clubtourismus samt zugehöriger Easyjet Ravers nicht mehr so recht zu finden), die Kunst- und Kreativszene ebenso (deren Erbe vielleicht die Latte-Macchiato-Mamis und Start-up-Expats): Die Entscheidung der Berliner war, sich nicht definieren zu müssen. Wer heute in die Stadt zieht, berichtet nach wie vor strahlenden Blickes von dem Gefühl, dort einfach so sein zu können, wie man nun einmal sei. Das bleibt, vielleicht, das wahre Erbe der Berliner 1990er, und der damals recht unregulierten Wohnsituation. Ob des großen internationalen Erfolgs der Destination Berlin nach der Wiedervereinigung wirkt es recht erstaunlich, dass sich die Immobilienbranche nicht auf den Freiheitsdrang und die weltweit gefeierte Coolness der Stadt verlassen will.

Retro-Chic

Die Projektplaner träumen lieber von einem klassisch-historistischen Zentrum, einer äußerlichen Renaissance des König- und Kaiserreichs, und blenden großteils aus, was in den vergangenen 100 Jahren in der heute bundesdeutschen Hauptstadt passiert ist. Und wenn sich Immobilienentwickler daran erinnern, dann häufig nur, um einen DDR-Retro-Chic aufleben zu lassen. Am Strausberger Platz, dem wichtigsten Knotenpunkt der Karl-Marx-Allee jener DDR-Aufmarschstraße, die Alexanderplatz und Frankfurter Tor bis heute miteinander verbindet wird etwa im Moment ein Haus im sowjetischen Zuckerbäckerstil der 1950er-Jahren revitalisiert. Der Verkaufsspruch hier: "DDR limited". Oder auch: "Midcentury of Warschauer Pakt". In den Werbematerialien des Projekts finden zwar die "40.000 Arbeiter", die mit "ihren Händen" die Wohnblocks der Allee errichteten, eine Erwähnung nicht aber der Umstand, dass diese Arbeiter die Massenproteste gegen das SED-Regime am 17. Juni 1953 einleiteten (nach denen, im Übrigen, eben jene Straße des 17. Juni benannt ist). Es scheint, als wäre es schwierig für die Branche, sich einer noch so jungen Geschichte anzunähern. Die einheimischen Berliner ignorieren die Immobilienavancen ohnehin: Die Interessenten bei Neubauprojekten stammen meist aus dem Ausland, vor allem aus Fernost.

("Kultur Magazin", 21.10.2016)

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