Saudade, ein Requiem für Lissabon

Gründe zum Traurigsein gibt es in Lissabon mehr als genug.
Gründe zum Traurigsein gibt es in Lissabon mehr als genug.Reuters
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Wehmut? Weltschmerz? Saudade, das Lebensgefühl von Lissabon, lässt sich nicht wörtlich übersetzen, wohl aber leidvoll nachempfinden.

Ein portugiesisches Puddingteilchen wird erst ein portugiesisches Puddingteilchen mit Kultstatus, wenn Touristen sich in langen Warteschlangen vor einer ganz bestimmten Bäckerei die Beine dafür in den Bauch stehen. Auf diese Weise verwandelt sich das im ganzen Land beliebte Pastel de Nata in den Süßigkeiten-star Pastel de Belém. Der ist nämlich nur in einer Konditorei im Lissabonner Vorort Belém zu haben, wo jeden Tag 20.000 dieser handtellergroßen Blätterteigtörtchen mit Puddingfüllung hergestellt werden – nach Geheimrezept, versteht sich.

So viel Mythos muss sein, wenn eine Backware zur Legende werden soll. Als Käufer huldigt man dem kulinarischen Kult und findet Trost und Stärkung durch die kalorienreichen Törtchen, wenn man sich in die nächste, deprimierend lange Warteschlange einreiht. Die windet sich vor dem Eingang des ebenfalls in Belém gelegenen Jerónimos-Klosters. Rund 3000 Besucher drängeln und schieben sich täglich durch das Weltkulturerbe. Sie schimpfen, weil sie mehr Körper als Kloster fotografieren müssen. Menschenmassen verderben die schönsten Motive. Sie machen sich im Kreuzgang breit, versperren den Blick auf das Grabmal von Vasco da Gama und verstopfen die Empore. Das ist Dichtestress.

Pessoa-Statuen und -Konterfeis

„Es gibt Momente, in denen uns alles ermüdet, sogar das, was zu unserer Erholung beitragen sollte.“ Der das schrieb, kannte die Zumutungen des Massentourismus noch nicht – Fernando Pessoa, der bedeutendste portugiesische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Der graubraune Marmorklotz, der sein Grab im Kloster von Belém markiert, lockt selbst diejenigen, die sich nichts aus seiner Literatur machen, und mit Pessoas Bronzestatue vor seinem einstigen Stammcafé posieren Touristen für ein schnelles Foto. Solche Zudringlichkeiten hätte sich der Dichter verbeten, fotografiert zu werden, war dem scheuen Sonderling verhasst. Geschicktes Marketing hat Pessoa-Statuen, Pessoa-Konterfeis auf Kachelwänden in der U-Bahn und das Pessoa-Museum zu touristischen Ikonen gemacht, die Reisende in Lissabon unbedingt gesehen haben müssen, und immer mehr Menschen wollen offenbar müssen. Lissabon erlebt ein touristisches Rekordjahr nach dem nächsten. 12,3 Millionen Hotelübernachtungen zählte die Stadt 2015. Hinzu kommen noch die Kurzbesucher, die morgens mit dem Kreuzfahrtschiff ankommen und am Abend wieder abfahren.

Im Monat kommen da schon über 90.000, im Jahr eine halbe Millionen Passagiere zusammen, die mit tsunamiartiger Wucht durchs Stadtzentrum gespült werden. Das sind fast ebenso viele wie die dort lebenden 540.000 Einheimischen. Immerhin schwärmte auch Fernando Pessoa für die Anreise per Schiff: „Für den Reisenden, der sich auf dem Seeweg nähert, erhebt sich Lissabon, selbst von weither, wie ein schönes Traumgesicht. Gestochen scharf steht es vor einem strahlend blauen Himmel, den die Sonne mit ihrem Gold erheitert. Dann scharen sich zur linken Seite über den Hügel hell die Häuser. Das ist Lissabon.“

Doch der Liebreiz bonbonfarbener Hausfassaden und blitzendblauem Tejo-Fluss verzieht sich leider ganz flott, wenn die absurd großen Megaschiffe andampfen. Achtzehn Geschoße hoch, 340 Meter lang, Platz für 3600 Passagiere und 1360 Besatzungsmitglieder. Oft liegen drei, vier solcher Megaliner hintereinander im Hafen – eine gigantische Mauer geballter Urlaubsfreuden. Viele Lissabonner Ladenbesitzer haben die Pläne mit den Ankunftszeiten der Kreuzfahrtschiffe unter ihren Verkaufstresen, um auf den Ansturm mit früheren oder längeren Öffnungszeiten reagieren zu können, an den Terminals stehen stets die Tuk-Tuk-Fahrer bereit. Motorisierte Rikschas sind seit einiger Zeit der neue Trend unter den Transportmitteln. Ab 45 Euro die Stunde kutschieren die Tuk-Tuk-Fahrer Touristen durch die Altstadtgassen, vorbei an Kathedrale und Kloster, hinauf zum Kastell, aber immer mit Zwischenstopps an einem der beliebten Aussichtspunkte (miradouros).

Selfie-Stick? Selfie-Stick, Sir?

Von dort liegen einem die Stadt zu Füßen und die gezischelten Offerten afrikanischer Straßenhändler in den Ohren. „Selfie-Stick. Selfi-Stick, Sir?“ „Next time“, wimmeln die Kreuzfahrer ab. „Next time“, spielen die Selfie-Stick-Verkäufer mit. Völlig ausgeschlossen ist ihr Wiedersehen tatsächlich nicht, denn das tourismusrelevante Lissabon ist klein. Es beschränkt sich auf wenige Orte, deren Attraktivität jedoch permanent gesteigert werden muss, mit immer neuen Dachterrassen-Cafés, Bars, Boutiquen, verschönerten Plätzen und Flaniermeilen.

Auch der 200 Jahre nach seinem Baubeginn immer noch unvollendete Königspalast soll bis 2018 fertiggestellt werden. Zur Deckung der Kosten müssen Beherbergungsbetriebe seit Januar 2016 eigens eine Touristenabgabe von einem Euro pro Nacht von ihren Gästen verlangen. Bis November wurden bereits 18 Millionen Euro eingenommen. Da fällt noch ein Zuschuss für das jüdisches Museum ab, das im Altstadtviertel Alfama errichtet wird, und bestimmt auch für den Einkauf neuer lustiger Transportvehikel für Touristen.

Elektrobuggys und Gokarts

Wem Tuk-Tuks oder die legendären Straßen- und Seilbahnen Lissabons nicht genügen, der kann schon heute in Sightseeing-Doppeldeckerbussen, benzingetriebenen Gokarts oder Elektrobuggys mit GPS und Audio-Guide durch die Stadt düsen. Größere Herausforderungen versprechen Slalomfahrten auf dem Segway durch überfüllte Fußgängerzonen, weil dort Kellner mit aufgeschlagenen Menükarten einen andauernd ausbremsen und in ein Restaurant nötigen wollen.

Ständig wächst das Angebot an Hotels und Pensionen. Allein 2015 eröffneten 20 neue Häuser. 40 weitere sollen in den nächsten zwei Jahren hinzukommen. Auch immer mehr Einheimische vermieten ihre Wohnungen per Internet an Touristen und quartieren sich selbst bei Verwandten in den Vorstädten ein. Sie profitieren gleich doppelt – verdienen an der Vermietung und entgehen dem Fluglärm.
Der Flughafen liegt im Norden der Stadt, nur wenige Kilometer vom Zentrum entfernt. Zu Stoßzeiten schweben die Maschinen im Minutentakt tief über die rotbraunen Ziegeldächer. Ihre Schatten verdunkeln die Gassen, ihr Dröhnen übertönt den Verkehrslärm, unterbricht alle Gespräche und stört selbst die Totenruhe auf dem Cemitério dos Prazeres.

Bis zu seiner Umbettung im Jahr 1985 lag auch Fernando Pessoa auf dem Friedhof, der für seine anmutigen Alleen voller kleiner Grabhäuser bekannt ist. Seine letzte Ruhe hätte er hier garantiert nicht gefunden. Auf einem Hügel über dem Teijo gelegen wabert von der Brücke des 25. April ein unaufhörliches Rauschen des Verkehrs zum Friedhof herüber. Auf sechs Fahrspuren wälzen sich Tag und Nacht die Autokolonnen, und unter den Fahrbahnen hängt eine Trasse für Eisenbahnzüge.

Schwermut, Melancholie

„Wenn das Herz denken könnte, stünde es still“, glaubte Pessoa. Weil es aber fühlen kann, muss es bei Lissabons Anblick tieftraurig werden. Es trauert um die verlorene Seele der Stadt. Geblieben ist nur die hübsche Attrappe eines Ortes, der seine Vergangenheit wie eine Ware in die Schaufenster legt. Eine Vergangenheit, nach der sich viele Lissabonner zurücksehnen. Darin liegt keine klischeehafte Nostalgie, keine verklärende Rückwärtsgewandtheit, es ist das Lebensgefühl, das in Portugal Saudade genannt wird. Schwermut, Melancholie, der Kummer, etwas Geliebtes verloren zu haben – für immer. Den musikalischen Ausdruck findet dieses Gefühl im Fado.

Hey Baby – ooh aah . . .

2011 als immaterielles Welterbe befunden, verkommen die leidenschaftlichen Gesänge in Lissabons Altstadt oft zur Folkloreshow für Touristen. Zum Dank revanchieren die sich bei der Abfahrt ihrer Kreuzfahrschiffe mit Disco-Musik. „Hey Baby – ooh aah – I wanna know if you'll be my girl“ schallt es vom Hafen über die sieben Hügel der Stadt. Sind tatsächlich nur die Portugiesen zu Saudade fähig, wie Pessoa behauptete? „Weil nur sie dieses Wort besitzen, um es wirklich beim Namen zu nennen.“ Hier irrte der Dichter.

Die Türken kennen hüzün, die Amerikaner fühlen sich blue, und mit der Einzigartigkeit durch Namensgebung ist das ohnehin so eine Sache. Man kann eine Mischung aus Mehl, Zucker, Eier, Milch und Butter Pastel de Belém nennen. Einmalig oder delikater als andere wird sie dadurch jedoch nicht. Der Beweis? Tapfer sein, liebe Warteschlangen-Steher von Belém: Die besten Puddingtörtchen in Lissabon backt die kleine Pastelaria Aloma im Viertel Campo de Ourique. Sie wurde bereits mehrfach im Rahmen einer großen Gastronomieveranstaltung für ihre Pastel de Nata ausgezeichnet. Den zweiten Platz im Puddingtörtchen-Wettbewerb belegte überraschenderweise die Marke Selecção Continente, die es im Supermarkt zu kaufen gibt. Ein portugiesisches Puddingteilchen ist also auch dann ein leckeres portugiesisches Puddingteilchen, wenn man sich dafür nicht die Beine in den Bauch stehen muss.

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