Schneefelder im Korallenriff

Obereggen
Obereggen(c) Obereggen - Ski Center Latemar
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Südtirol, Obereggen. Der Latemar schaut herunter, der Skifahrer gondelt auf ihn zu. Selten hat man in einem Skigebiet so gut gegessen wie hier. Und ja: Die Pisten sind erstklassig frisiert.

Die Notwendigkeit für eine Hütte an diesem Platz an der Sonne gebe es schon lang, meint Georg Weissensteiner, Mitbegründer und Präsident des Skigebiets Obereggen. Doch sollte aus der neuen Einkehr weder die Verlängerung traditionalistischen Bauens werden noch eine Variation der gläsernen Box, wie sie in den Bergen jetzt gern errichtet wird. Nach einem Architektenwettbewerb entschied sich die Bergbahn dafür, den Vorschlag des Architektenteams Peter Pichler (Mailand) und Pavol Mikolajcak (Bozen) für die Oberholz umzusetzen: Drei gebogene Röhren mit fünfeckigem Querschnitt ragen aus dem Berg, die Fronten der auskragenden Bauteile sind voll verglast, sodass man einerseits geborgen unter einem vermeintlichen Satteldach sitzt, andererseits die Berge gegenüber voll im Blick hat.

„Könnt ihr das Dach erkennen?“ fragt Weissensteiner in die Runde, die aber nur dezente graue Firstlinien ausmachen kann. Das hat seinen Grund: Der Neubau fügt sich von oben gesehen ins Gelände ein, von unten ist er präsent. Ziel war, sehr wenig Oberfläche zu versiegeln und nachhaltige Architektur in die Natur zu stellen. Drinnen gruppieren sich Essplätze, Bänke und gemütliche Sessel bis in den Bauch der Hütte, die Infrastruktur wurde noch weiter in den Berg gebaut. Fischgrätenartiges Gebälk trägt die außergewöhnliche Dachform. Man sitzt da und staunt über Konstruktion und Zimmermannsarbeit, wundert sich aber nicht, weil solches in Südtirol Tradition hat.

Die Oberholz-Hütte, gerade erst eine halbe Skisaison in Betrieb, hat bereits Architekturpreise erhalten. Gastronomisch liegt sie auf Südtiroler Niveau, was heißt, dass man hochwertige Küche mit regionalen Zutaten, eine ordentliche Weinkarte und thematische Tage (Eggentaler Rind oder Bergkäse) voraussetzen darf. Und dass auf der Terrasse andere Musik spielt als übliches Skihüttenhumtata, passt ins Bild: Ein Saxofonist, ein Elvis-Performer, ein DJ – das ist atmosphärezuträglich.

Ohne Überraschungen für den Bauherrn entsteht Architektur in einer Höhe von über 2000 Metern selten, schon gar nicht in einem Gestein wie am Fuß des Latemar, des Dolomitenstocks, der das Skigebiet Obereggen überragt. Es brauchte schon einiges Material mehr, dass sie so steht, wie sie steht, erzählt Weissensteiner.

Brüchige bleiche Berge

Das Gestein ist dolomitenweit nirgendwo gleich. Und wegen seiner Zusammensetzung an einer Stelle fester, an anderer brüchiger, so wie hier: Die spröden Zacken des Latemar stecken in riesigen Schuttkegeln oberhalb der Lifte. Gipfel wie Zähne, Kare wie Zahnfleisch – nur dass es sich umgekehrt verhält: Mit der Zeit wird der Schutt stärker, weil die Zacken weniger.

Die Dolomiten insgesamt sind eine wilde Schichtung, Stauchung und Pressung von unterschiedlichem Gestein, versteinerten Korallenriffen, vulkanischem Material. Vor 250 Millionen Jahren breitete sich hier das Tethysmeer aus, daher könnte man im Sommer hier Fossilien finden. Von Weitem schaut der Latemar aus wie eine gebogene Mauer, doch mit jedem Meter, den man sich via Sessellift oder Kabinenbahn nähert, wirkt sie plastischer, zerfurcht und in Klüfte zerlegt, voller Schächte und Grate, durch die sich Wege nur denken lassen. Links von der Seite drängt ein Teil des Schlernmassivs ins Panorama, während der Rosengarten-Stock, die berühmte Verbindung zum Latemar, etwas zurücktritt. In ästhetischer Hinsicht kann der Latemar mit Letzterem durchaus mithalten, obwohl er unter den Dolomitengipfeln einer der wenig überrannten ist. Nach Osten erscheinen mit dem Sellastock und weiter entfernt dem Monte Pelmo weitere Augenweiden im Sichtfeld der Skibrille. Umgeben wird die Dolomitenszenerie von niedrigeren Kollegen. Porphyr formte dieses sanfte Gelände, in dem sich das Skigebiet abwechslungsreich ausbreitet und in dem sich die paar Gemeinden des Eggentals verstreuen. Bozen liegt übrigens gar nicht weit, etwa 20 bis 30 Fahrminuten, was das Skicenter Latemar zu einem Ziel für die Hauptstädter macht.

Mythen schaffen Orte

Das bekannteste Fotomotiv dieser idyllischen Gegend steht für ganz Südtirol: Dolomiten in Kombination mit dem in vielen Blau- und Grüntönen schimmernden Karersee. Das Miniaturgewässer (eine halbe Stunde entfernt, im Winter fast ohne Wasser und romantisch eingeschneit) entsprang natürlich einer Legende, denn es gibt fast keinen Platz in den Dolomiten, der nicht überhöht und mystifiziert ist: Hier dient der Konflikt einer wunderhübschen Wasserjungfrau mit einem bösen Hexenmeister der See-Genese. An dem Vorfall, wie der Zanggen, auf dem die steilste Piste liegt, zu seinem Namen kam, dürfte aber etwas dran sein – man stritt sich um Holz.

Die Zirbenbestände auf dem pultartigen Berg sind heute wie damals wertvoll. Das Eggental lebte lang vom Holzhandel, wurde damit vergleichsweise wohlhabend, bis der Holzpreis vor ein paar Jahrzehnten in den Keller fiel. Und man sich etwas einfallen lassen musste – daher ist das Skigebiet Obereggen gemessen an anderen in Südtirol recht neu. Schließlich brachte Pionier Weissensteiner mit elf Freunden die Idee durch, einen ersten Lift zu bauen, immer weiter zu expandieren, als einer der Ersten im Alpenraum Schneekanonen einzusetzen und viel in die Pistenpflege zu investieren (was in Summe dazu führt, dass das Skigebiet regelmäßig international ausgezeichnet wird). Damals hatte man sich auch von der Trentiner Seite her immer weiter angenähert, bis Obereggen, Pampeago in der Mitte und Pedrazzo zusammenhingen. Die Grenze geht mitten durch das Skigebiet, das die Skifahrer heute als übergangslos empfinden, mit einmal mehr deutschsprachig, einmal mehr Italienisch auf den Hütten und am Lift. Für den Skifahrer ist das vermutlich unerheblich, ob er einmal auf der Südtiroler, einmal auf der Trentiner Seite herumkurvt, die Mischung macht's aus.

Anspruchsvoll sind die natürlich angelegten Pisten, die roten Abfahrten haben sogar mehr Tendenz zum Schwarzen als zum Blauen. Was ganz im Speziellen für die Maierl-Abfahrt gilt, die nach der Oberholzpiste neuerdings als Europacup-Piste genützt wird, „immer im Schatten“, so Weissensteiner. Dies macht das Gebiet Latemar-Obereggen zu einem fortgeschrittenen Ziel, während hingegen Carezza, das zweite und unweit des Karersees gelegene Skigebiet des Eggentals, mehr gemütliche Wintersportler beziehungsweise Familien anspricht.

Der Gast, der hier seinen Skiurlaub verbringt, dürfte es auch nicht wirklich auf das Pistenkilometerfressen anlegen – sondern mehr auf den Genuss. Das Skigebiet ist mit Hütten mehr als gesegnet: In der Baita Gardonè zum Beispiel bekommt man eine Weinkarte vorgelegt wie selten im Tal. Die Terrasse ist auch der Ort, um eine Champagnerflasche in der Frühlingssonne zu köpfen, ohne allzu viel Getue rundherum. Ein origineller Zaun aus aufgeschichteten Holzscheiteln, in denen die leeren Flaschen stecken, umfriedet das Areal mit den lässigen Liegen zum Abhängen mit Beschallung.

Im Bedienrestaurant der großen Mayrl-Alm stehen Hummer und Jakobsmuscheln ebenfalls mit einem gewissen Selbstverständnis auf der Karte – nebst Pasta und Knödeln, die sich in frontaler Sonneneinwirkung mit einem Glaserl Lagrein verdrücken lassen. Auch am Weigler Schupf sollte man nicht vorbeifahren, die urigste Einkehr am Berg. In der winzigen familiengeführten Hütte kommt sehr beherzte Südtiroler Küche auf den Tisch.

Rodelbahn neben Pisten

Neuerungen in einem Skigebiet sind heutzutage oft Arbeit am Detail, weniger Neuerschließungen und Großbaustellen. So auch hier in Obereggen: Eine Bergbahn wurde so konfiguriert, dass an ihr Sessel wie auch Kabinen hängen. Damit kann man wählen: komfortabel oder komfortabelst auf den Berg. Und weil eine Rodelroute in einem Skigebiet meist keinen prominenten Platz einnimmt, gibt es sie hier (auch weil in Südtirol das Rodeln einen anderen Stellenwert zu haben scheint als in Österreich). Eine Rodelpartie ist untertags lustig – für eine Pause zwischen Abfahrten und Einkehren. Und am Abend eine Gaudi – vor den Abfahrten, die am nächsten Tag anstehen. Und die Einkehren, selbstredend.

SKI-INFO

Skifahren, Snowboarden, Rodeln:Obereggen gehört zum Skicenter Latemar. Skiresort.de hat dieses unter die besten 25 Skigebiete Europas gewählt. www.obereggen.com

Übernachten: Hotel Cristal in Deutsch- nofen. Vier-Sterne-Superior, modern umgebaut/erweitert. Sehr gute Küche, tolles Ambiente, www.hotelcristal.com

Hinkommen: Ab Bozen-Nord mit dem Auto in ca. 20–30 Minuten.

Einkehren:Mayrl Alm, Oberholz Hütte, Baita Gardonè und Weigler Schupf.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.01.2017)

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