Tibet: Das Aufrollen der großen Bilder

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Die Tibeter feiern Neujahr nach dem Mondkalender, meist im Februar. Mittlerweile wimmelt es dort von chinesischen Zuschauern. Verkommt die Tradition zur Folklore?

Der junge Tibeter lächelt: „Meine Oma hat mir oft die Geschichte vom bösen Schwarzbären erzählt. Einmal kämpfte er gegen einen klugen Affen, einmal gegen ein cleveres Schaf. Und immer verlor der Bär.“ Es klingt wie eine Parabel, die der 28-Jährige in Rebkong erzählt. Die Stadt, die die Chinesen Tongren nennen, liegt in der Provinz Qinghai, die Tibeter bezeichnen das Gebiet als Osttibet. Es zählt nicht zur Autonomen Region Tibet, weil weniger als 50 Prozent der Einwohner Tibeter sind. Es ist ein Melting Pot, in dem neben Chinesen auch viele Mongolen leben.

Der junge Mann ist auf der Suche nach einem verlorenen Teil seiner selbst. Er hat schon vielerorts gesucht, in seinem Dorf, in Amerika, wo er internationale Beziehungen studiert hat, nun in Rebkong, wo er im Kulturzentrum arbeitet. „Ich träume vom Land meiner Vorfahren“, sagt er. Tibetische Nomaden, die ihren Herden über die Weidegründe folgten. Viele von ihnen gibt es nicht mehr, seit 2006 betreibt die chinesische Regierung ein Programm zur Sesshaftmachung. Seine Familie lebt schon lang in einem Dorf „hinter den Hügeln und Betonschachteln“. Die Familie sieht er meist nur noch zu Losar, den tibetischen Neujahrsfeierlichkeiten, die im Februar stattfinden, weil Tibet das Jahr nach dem Mondkalender berechnet. Für die einstigen Bauern und Nomaden waren die Tage kurz vor und nach Neujahr die ärgsten: Temperaturen bis minus 30 Grad, Wind, zur Neige gehende Vorräte. Losar und andere Feste halfen zu überleben, brachten die Menschen zusammen, schufen oder erinnerten an die Gemeinschaft, die sich in der Not half. Die Feierlichkeiten dauern rund 15 Tage. Anfangs besuchen die Tibeter ihre Familie, gegen Ende ziehen sie in die Klöster, um das Böse zu bannen. Drei Zeremonien finden dort statt: eine Prozession zu Ehren des Buddhas der Zukunft, Maskentänze und die Entrollung eines großen Bildes, eines Thangka.

So war es früher. Und heute? Der junge Mann fährt noch immer in sein Dorf. Neben ihm steht ein Freund – resigniert. Bei ihm sind die Tänze sehr klein ausgefallen: „Die chinesische Regierung hat währenddessen ein Basketballspiel angeordnet, weshalb viele nicht zum Fest kommen konnten.“ Und wenn, dann sind dafür umso mehr Chinesen dort. Was für die einen eine Zeremonie, sich ihrer selbst zu versichern, scheint für anderen reines Entertainment. Die Chinesen in der Tempelanlage Gomar unweit von Rebkong fotografieren alles: die Thangka-Entrollung, die Dorfbewohner, die in dicken Lammfellmänteln vor dem buddhistischen Tempel hocken. Die Stoffbehänge, die Fabelwesen, die von Flammen umloderten Juwelen, die Glück bringen sollen. Für einen kurzen Moment ist es still, nur das tiefe Brummen der Meditationsgesänge dringt aus dem Tempel. Auf ein Zeichen beginnen die Männer Schokolade, Lollis und Äpfel in die Menge zu werfen.

Männer in schwarzen Roben ziehen vorbei, tragen eine zehn Meter lange Rolle auf den Schultern – ein Thangka, ein Bild, das einen Teil aus Buddhas Lehre visualisiert. Zum Neujahrsfest wird das größte ausgerollt. Die Legende erzählt, dass Tsongkhapa, der Gründer der Gelbmützen, eine der vier Schulen des Buddhismus, in einem Kloster fern von zu Hause in die Lehre ging. Seine Mutter schickte ihm ein graues Haar. „Ich vermisse dich und bin alt, komm zurück“, sollte es heißen. Doch Tsongkapas Wurzeln lagen im Glauben, daher malte er ein Bild von sich und sandte es seiner Mutter. Ein Thangka erinnert daran, wo man herkommt und welche Werte wichtig sind. Es erdet einen in der Gemeinschaft. Am Fuße des Hügels haben sich die Dorfbewohner vor dem Thangka versammelt, Männer auf der einen Seite, Frauen auf der anderen, die Mönche in roten Roben davor. Sie spielen auf Handglocken, Becken und Dung Chen, den langen Trompeten, und rezitieren einen monotonen Gesang. Sobald sie pausieren, antworten die Frauen mit einem Chor aus „Om“. Klänge wabern von einer Seite zur anderen, kriechen in die Gehörgänge, lassen sich nieder im Bauch.

Refinanzierung mit Bildern

Während des Losar sieht man viele rote Armbinden, die Angehörige der kommunistischen Partei ausweisen. Sie sollen aufpassen, denn in den vergangenen Jahren haben sich immer wieder Mönche selbst verbrannt. Auch Kameras sieht man an Hauswänden, ein Fernsehteam zeichnet die Tänze auf, man fragt sich, wer die Aufnahmen am Ende noch alles nutzen wird. Für Maler von Thangkas ist Losar Hochsaison, denn Chinesen, die oft mehr Geld haben, leisten sich diese Bilder. „Manche Geschäftsmänner laden die Mönche in ihre Penthouses nach Peking und Shanghai für private Zeremonien ein“, erzählt einer von ihnen, „im Gegenzug spenden sie dem Kloster einen sehr großen Betrag.“ Auch seine Thangkas hängen in Häusern chinesischer Geschäftsleute. „So finanzieren sie die Neubauten und Renovierung des Klosters.“

Unweit der Innenstadt liegt das Kloster Senge Shong Magotsang. Im Innenhof tanzen Dämonen mit grünen und roten Gesichtern. Trommeln schlagen im immer gleichen Rhythmus, dazwischen tönen Dung Chen. Fabelwesen treten auf, Gestalten mit Hörnern, Totenköpfen, Rasseln. Es sind die Cham-Tänze, Maskentänze, durch die das schlechte Karma des Vorjahrs gebannt wird. Kurz vor Sonnenuntergang ziehen sie aus dem Kloster, begleitet von Chinakrachern, hinaus auf ein Feld, wo sie die Linga, die Figur, in der das Böse eingefangen wird, auf einem Scheiterhaufen verbrennen.

Um die Tanzenden stehen Menschen in Roben, die Schuhe poliert. Sogar die Kinder tragen Kostüme, in denen sie aussehen wie lebendige Puppen. Mit ihren Smartphones fotografieren sie die Dämonen, sich selbst, das Essen. Von den chinesischen Kamerajägern zwar keine Spur, von Gesten der Demut und Ehrfurcht aber auch nicht. Ist das die Überführung einer Tradition in die Moderne oder deren Ende? Der junge Mann aus dem Kulturzentrum antwortet prompt: „Im Buddhismus glauben wir, dass alles im ständigen Wandel ist. Entwicklung kann man nicht aufhalten. Ich würde mir wünschen, dass die Menschen sich wieder mehr umeinander kümmern als um die Dinge herum.“ Dann lächelt er. Lächeln und Mitgefühl, darum ginge es im Buddhismus – und das unterliege keinem Trend.

Osttibet in Kürze

Veranstalter. Reisen zum Neujahrsfest bietet zum Beispiel Hauser Exkursionen an. Ab München und Wien geht es nach Peking und von dort per Inlandsflug weiter in die Region Osttibets, wo sieben Tage lang Klosterfeste in Rebkong und Labrang besucht werden. www.hauser-exkursionen.de

Region. Osttibet gehört nicht zum Autonomen Gebiet Tibet, die traditionellen Gebiete Amdo und Kham verteilen sich auf mehrere chinesische Provinzen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.02.2017)

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