Peru: Braune Ziegel, grüne Küste

Unesco-Weltkulturerbe: das Rathaus and der Plaza Mayor.
Unesco-Weltkulturerbe: das Rathaus and der Plaza Mayor.(c) imago/Westend61 (imago stock&people)
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Die Hauptstadt, Lima, wächst rasant. Bei allem Chaos bilden sich sehr spannende Räume aus.

Aus allen Richtungen Hupgeräusche und Musik aus den Radios der nur mühsam vorwärtskommenden Autos, Lkw und überfüllten Kleinbusse, aus deren Auspuffrohren schwarzer Rauch bläst. Direkt an der Kreuzung versucht ein schwarzer Pick-up mit getönten Scheiben, von der äußersten rechten Fahrspur doch noch nach links abzubiegen. Ein Straßenverkäufer nützt den Verkehrsstillstand, um Popcorn zu verkaufen. Ein anderer zieht aus einer Styroporkühlbox Flaschen mit verschiedenen Softgetränken hervor. Ein heilloses Durcheinander an Verkehr, buntem Essen, schmutzigem Wasser, Lärm, halb fertigen Betonbauten und wild durch die Gegend gestikulierenden Polizisten. Die peruanische Hauptstadt ist berühmt-berüchtigt für endlose Staus, denen man als Besucher bereits auf dem Weg vom Flughafen in Callao zum Hotel in Lima begegnet.

In der Hauptstadt prallt die Vielfalt des ganzen Landes mit seinen drei unterschiedlichen Klimazonen aufeinander. Und doch ist sie für viele Peru-Reisende noch immer nicht mehr als Durchzugsort auf dem Weg nach Machu Picchu, der beliebtesten Sehenswürdigkeit Südamerikas, dabei hat die offiziell knapp Neun-Millionen-Einwohner-Stadt einiges zu bieten. Nicht immer scheint sie sich selbst ihrer Schätze bewusst zu sein.

„Das sieht ja aus wie in einer Bücherei!“, ruft der achtjährige Leonardo, das jüngste Mitglied der Gruppe, die an diesem Morgen durch Pucllana geführt wird, begeistert. Tatsächlich sind die braunbeigefarbenen Lehmziegel der Mauern längs aufgestellt, wie Bücher in einem Regal, allerdings mit jeweils einem Zentimeter Abstand dazwischen. Auf den ersten Blick wirkt es, als könnten die Mauern von Pucllana jeden Augenblick in sich zusammenfallen. Doch gerade dank dieser Bauweise überlebten die Bauwerke der Siedlung seit etwa 800 v. Chr. die zahlreichen Erdbeben. „Huaca“ ist der Überbegriff für die präkolumbianischen Denkmäler, Sehenswürdigkeiten und noch nicht ausgegrabenen Erdhügel, von denen es allein in der Region Lima 365 geben soll. In der Huaca Pucllana wurde Mitte der 1960er-Jahre mit den Ausgrabungen begonnen, unterbrochen 1968/69 durch den Staatsstreich.

Müssen gegen die Bauwut halten: die Mauern von Pucllana.
Müssen gegen die Bauwut halten: die Mauern von Pucllana. (c) Margit Atzler- www.openheart.at

Kulturerbe teilweise überbaut

Als 1981 die Restaurierung fortgeführt wurde, waren von ursprünglich insgesamt 14 Hektar, die unter dem groben Sand darauf warteten, ausgegraben und konserviert zu werden, lediglich sechs Hektar übrig. Der Rest war bereits durch Häuser und Straßen verbaut oder als Baumaterial von Traktoren abgetragen worden. Die stiefmütterliche Behandlung der Huacas durch das moderne Peru ist laut Alberto Bueno Mendoza symptomatisch für das Land und sein Selbstverständnis. Der Professor für Archäologie an der Universität von San Marcos in Lima kritisiert die Untätigkeit des Kulturministeriums, das sich einer Politik unterordnet, die nur wenig Verständnis für das kulturelle Erbe des Landes hat. Man will sich nach Westen orientieren, modern und fortschrittlich sein. Die Vergangenheit ist da oft im Weg. Mit dem Ausgraben von ein paar Steinhaufen lässt sich eben nicht so viel Geld verdienen wie mit dem Bau eines neuen Einkaufszentrums. „Selbst die Japaner kommen nach Peru, um herauszufinden, wie die Pyramiden den vielen Erdbeben in der Zone standhalten konnten“, erzählt der Architekt Mario Osorio bei einem Besuch der Huaca Puruchucu. Er widmet seine Arbeit dem Studium der andinen Symbolik und Numerologie. „Diese alten Bauwerke dürfte es laut den Regeln der Architektur, wie sie auf der Universität gelehrt wird, gar nicht geben. Dabei vermitteln sie uns mehr als jede Universität.“

Palast mit Holzbalkon

Das historische Zentrum Limas wurde 1991 zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt. Die gelben kolonialen Palastbauten mit ihren dunkelbraunen Holzbalkonen, die die Plaza Mayor an zwei Seiten säumen, sind heute hauptsächlich Regierungsbüros und beliebtes Fotomotiv. Gegenüber liegen der Präsidentenpalast beziehungsweise die Kathedrale von Lima. Hier auf dem Hauptplatz stand der Galgen, was diesen Ort zum Zentrum der Inquisition gegen alte religiöse Riten, Bräuche und traditionelle Heilkunde gemacht hat. Vielerorts ist zu lesen, die Plaza Mayor sei so etwas wie die Geburtsstätte Limas, doch ist damit lediglich das koloniale Lima gemeint, das von 1535 bis ins 18. Jahrhundert die Hauptstadt ganz Südamerikas war.

Die permanente Besiedelung der Täler Lima, Chillón und Lurín, wo große kulturelle Komplexe erbaut wurden, geht auf das 4. und 3. Jahrhundert vor Christus zurück. Schon vor der Ankunft der Spanier war der Großraum des heutigen Lima das am dichtesten besiedelte Gebiet der Küste des heutigen Peru.

Wer die Fußgängerzone Jiróndela Unión in nordwestliche Richtung entlang des Präsidentenpalasts weitergeht, kommt zum alten Postgebäude, das heute kleine Souvenirstände beherbergt. Hinter dem Gebäude gibt es eine Art Promenade, die noch in den 1980ern unzählige informelle Straßenverkäufer beheimatete, die von Zahnbürsten bis Kühlschränken alles verkauften. Von hier hat man einen guten Blick über den Río Rimac auf den Cerro San Cristóbal und die Armenviertel, die sich den Hügel hinaufquälen. Als mit der beginnenden Industrialisierung des Agrarsektors und der Fischerei in den 1960er- und 1970er-Jahren die Bevölkerung Limas explosionsartig anwuchs, siedelten sich die Zuwanderer aus ärmlichen Regionen rund um das Zentrum an.

An der Costa Verde stellen sich die luxuriösen Wohntürme von Miraflores auf.
An der Costa Verde stellen sich die luxuriösen Wohntürme von Miraflores auf. (c) imago/Westend61 (imago stock&people)

Soziales Ungleichgewicht

Durch mangelnde Fruchtbarkeit der trockenen Böden oberhalb des Flusses waren die Grundstückspreise entsprechend niedrig. Auf der anderen Seite der Plaza Mayor führt die Jiróndela Unión in Richtung Südwesten vorbei an wenig einladenden Restaurants und Läden zur Plaza San Martín. Hier erinnert das Grand Hotel Bolivar an Zeiten, in denen das Zentrum auch Lebensmittelpunkt der Stadt war. Noch in den 70ern, bevor sich die Limeños wegen des Bevölkerungszuwachses der Hauptstadt neue Stadtteile bauten, war das Grandhotel eines der beliebtesten Hotels Limas. Heute versucht es, den bröckelnden Glanz für Hochzeitsfeiern in Szene zu setzen.

„Die Reichen Perus und Limas sind unverschämt reich. Und sie bleiben immer unter sich, machen Urlaub in Miami und Paris“, erzählt Arturo, der in Österreich lebt und seine Heimatstadt in regelmäßigen Abständen besucht. Er wuchs in San Isidro, einem der reichsten Bezirke Limas, auf, wo seine Eltern eine Wohnung erwarben. „Die anderen Kinder in der Schule konnten nicht verstehen, warum wir nicht wie alle anderen in einem eigenen Haus wohnten. Uns ging es finanziell nicht schlecht, aber verglichen mit den anderen waren wir richtiggehend arm.“ Arturo erinnert sich an prächtige Wohnhäuser und Paläste aus Kolonialzeiten und die sie umgebenden Gärten, die damals noch gut einsehbar waren. Heute verstecken sie sich hinter meterhohen Mauern oder wurden abgerissen, um für moderne Wohnschlösser Platz zu schaffen.

Lima geht nahtlos in die Nachbarstadt Callao über, wo sich mit dem Flughafen und dem Containerhafen wichtige Wirtschaftsstandorte befinden. In Callao gibt es Bezirke, in die Polizei selbst bei Tageslicht keinen Schritt hineinwagt. Die Küstenstraße der Landzunge La Punta hingegen säumen gut erhaltene Villen aus der Kolonialzeit. Dank der ständigen Präsenz von Polizei und anderem Sicherheitspersonal animiert die Promenade mit ihren Restaurants zum gemütlichen Spazieren. An den Anblick der Männer und Frauen in kugelsicheren Westen gewöhnt man sich rasch. Callao war schon zur Zeit der ersten spanischen Besiedelung in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Hafenstadt und Handelszentrum. Lima befand sich weiter im Landesinneren am Ufer des Rímac. Lima wurde immer größer und nahm nach und nach die Städte Chorrillos, Miraflores, Barranco, Magdalena Vieja und Magdalena del Marin in sich auf, die heute noch den Bezirken ihren Namen geben.

Moderne und Bohème

Die auf den ersten Blick so verwirrenden Gegensätze Limas offenbaren sich allmählich als natürlich gewachsen. Selbst im Chaos herrscht eben eine gewisse Logik. In Anbetracht der vielfältigen Vergangenheit, die sich dem Besucher an jeder Straßenecke offenbart, lustwandelt es sich mit anderen Augen durch den Parque del Amor (Park der Liebe) zu Füßen der Wohnhochhäuser in Miraflores, wo Verliebte Händchen haltend den Sonnenuntergang über dem Pazifik genießen. In den Restaurants und Bars des Einkaufszentrums Larcomar sind die Tische mit Meerblick um diese Tageszeit sehr beliebt. Hier stimmt man sich mit einem Cocktail oder frischem Fruchtsaft auf den Abend ein.

Unterhalb der Klippen an der Costa Verde (grüne Küste) tragen die Surfer zum kontrastreichen Stadtbild bei. Zwar sind die Strände weiter im Süden attraktiver und sauberer, doch wer vor oder nach der Arbeit noch schnell ein paar Wellen reiten möchte, für den ist Lima die perfekte Stadt zum Leben. Die Häuser im Rücken vergisst man hier unten schnell, dass man eigentlich mitten in der Stadt ist, bis Hupgeräusche von der Schnellstraße, die am Strand entlangführt, das hypnotisierende Rauschen der Wellen wieder übertönen. Die meisten Hotels für ausländische Besucher befinden sich im Stadtteil Miraflores, der sich modern und westlich präsentiert. Die Hochhäuser entlang der Klippen beherbergen luxuriöse Wohnungen mit traumhaftem Blick auf den Pazifik. Gepflegte Grünanlagen säumen den Küstenstreifen, wo Läufer Familien mit Kleinkindern überholen und Hausangestellte die Hunde ihrer Arbeitgeber Gassi führen. Viele Menschen sehen aus wie Europäer oder Nordamerikaner, manche sind es auch. Peruaner aus armen Verhältnissen arbeiten als Dienstpersonal. Die obere Mittelklasse zelebriert sich selbst in zahllosen Restaurants und Bars. Eine alleinstehende Frau ohne Kinder mit eigener Wohnung und abwechslungsreicher Freizeitgestaltung hat in Peru Seltenheitswert. Nicht jedoch in Miraflores. In den Bars und Galerien im Viertel Barranco geben die Bohème und die Alternativszene Limas den Ton an. Barranco ist wohl der am besten erhaltene Teil Limas, in dem die kolonialen Bauten gleichsam restauriert und wiederbelebt werden. Der peruanische Starfotograf Mario Testin schuf mit dem Mate-Museum ein Zentrum für zeitgenössische Kunst und Fotografie, um dem kreativen Potenzial des heutigen Peru eine Präsentationsfläche zu bieten.

Beim Salsatanzen im Sargento Pimenta am Dienstagabend verschwendet wohl kaum einer einen Gedanken an Korruption oder die Wurzeln des sozialen Ungleichgewichts. Das ist Lateinamerika! Solang die Musik spielt, ist das Leben locker und leicht.

Auf einen Blick

Anreise: Von Europa aus täglich mit Iberia via Madrid oder mit KLM via Amsterdam, ca. zwölf Stunden.

Unterwegs: Der öffentliche Verkehr beschränkt sich auf den Schnellbus Metropolitano, die lokalen Busse und geschätzte 180.000 Taxis in Lima und Callao zusammen. Wer nicht Spanisch spricht, sollte beim Taxi bleiben. Achtung: Preis unbedingt vor dem Einsteigen vereinbaren! Wenn es zu teuer scheint, einfach das nächste Taxi herbeiwinken. Im Stau Fenster hinauf und die Türen verschließen. Handtasche zu den Füßen stellen, um sie vor den Blicken potenzieller Taschendiebe zu schützen. Taxi-Tipp: Taxi Satelita, Taxi Real u. a.: „sicheres“ Taxiservice, das über eine App buchbar ist, die Route kann nachverfolgt werden. Diese Firmen haben fixe Raten für die Strecken, verlangen meist Online-Registrierung und sind so automatisch mit Kreditkarte zahlbar.

Imbiss: Auf den Märkten offenbart sich der kulinarische Reichtum Perus. Wer hungrig kommt, wird an den zahlreichen Saftbars mit frischen Fruchtsäften, die man sich selbst zusammenstellen kann, versorgt. Ceviche ist Perus berühmtes Gericht – der Fisch wird nicht gekocht, sondern lediglich in Limettensaft kaltgegart. Auf dem Markt ist er oft besser und vor allem frischer als in vielen teuren Restaurants in den Nobelvierteln, z. B. Mercado Surquillo Paseo de la República, Block 53 Surquillo Bioféria (Biomarkt) an Sonntagen mit sogenannten Superfoods wie verschiedenen Sorten von Quinoa, Maca, Rohkakao zu guten Preisen und in Bio-Qualität.

Mittagessen: Canta Rana, Genova 101 Barranco Ceviche & andere peruanische Spezialitäten. Einzigartiges Ambiente in dem hohen Raum, dessen Wände Bilder diverser VIPs zieren. Wer vor 13 Uhr da ist, bekommt meist noch einen Platz.

Zu jeder Tageszeit: Antigua Taberna Queirolo, Avenida San Martín 1090 Pueblo Libre, klassische Hausmannskost und Pisco. Die Taberna befand sich ursprünglich inmitten der Weingärten der Familie Queirolo. Die landwirtschaft-lichen Flächen von Pueblo Libres sind der Bebauung durch Wohnhäuser gewichen. Gemütliches Flair, kombinierbar mit dem Besuch von Museo Larco und dem Museum für Archäologie und Anthropologie. Typische Gerichte: Paparellena (gefüllte Kartoffel), Rocotorelleno (gefüllte scharfe Paprika), Tamal (mit Mais und Fleisch gefüllte Bananen- oder Maisblätter), Cau Cau (Kuttelgericht), Chorito alachalaca (Muscheln mariniert in Limettensaft, mit Zwiebeln, Mais und scharfem Paprika). Servieren eigenen Wein und Pisco (berühmter peruanischer Wein- brand), der heute u. a. in der Wüstenstadt Ica angebaut wird. Getränketipp: Res Completa (eine Flasche Pisco und eine Flasche Gingerale), um sich selbst den perfekten Chilcano zu mischen.

Kaffeehaus + Baristakurse: Café Bisetti, Avenida Pedrode Osma 116 (direkt am Hauptplatz von Barranco). Eigene Kaffeerösterei mit Kaffeeschule. Die unterschiedlichen Kaffeesorten Perus gibt's zum Verkosten.

Ausgehtipp: Salsatanzen im Sargento Pimienta Avenida Bolognesi 757. Barranco jeden Dienstag, Einlass ab 22 Uhr, Livemusik ab ein Uhr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.09.2017)

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