Südosten von Paris.

Weltstadtentwicklungen an der Seine

STATION F
STATION FPatrick Tourneboeuf
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Es gibt viel zu entdecken – spannende Architektur und das Pariser Chinatown, weitab von den Massen.

Ein Eiffelturm aus Beton schickt sich an, zu einem neuen Pariser Wahrzeichen zu werden. Die Halle Freyssinet im Südosten der Stadt, die mit dem berühmten Turm die Länge von über dreihundert Metern gemeinsam hat – wenn auch in der Waagrechten –, hat ihre Pforten eröffnet. Drei Jahre lang wurde sie renoviert und umgebaut. Unter dem neuen Namen Station F beherbergt sie seit Juli den größten Start-up-Campus der Welt.

Es sind nicht bloß Längenvergleiche, die beim Besuch des 1929 errichteten ehemaligen Postbahnhofs den Gedanken an Gustave Eiffel nahelegen: Wie dessen Turm ist die Stahlbetonhalle eine Ingenieursleistung, bei der ein Visionär dem Publikum vorführt, was sein bevorzugtes Baumaterial zu leisten vermag. Während Eiffel ein Stahlgerüst nach dem anderen errichtete, erfand sein jüngerer Kollege Eugène Freyssinet den Spannbeton. Dass die dadurch möglich gewordenen Bogenkonstruktionen eine geradezu filigrane Leichtigkeit ausstrahlen können, erlebt man in der nach ihrem Schöpfer benannten Halle.

Pop-up Stores und Cafés

Auch mit dem Telekom-Unternehmer Xavier Niel ist Freyssinets Meisterstück untrennbar verbunden: Als die Post 2006 den Standort aufgab, erkannte dieser das Potenzial des denkmalgeschützten Baus und investierte etwa 250 Millionen Euro in Kauf und Umbau der 34.000 Quadratmeter überspannenden Halle. Bis zu 5000 Menschen können hier arbeiten und die Infrastruktur nützen, die zahlreiche Gründerprogramme – unter anderem von Facebook – bieten. Neben Start-ups zieht das neue Wahrzeichen des Pariser Südostens aber auch ein ein breiteres Publikum an: durch Pop-up Stores, Cafés, ein Auditorium und nicht zuletzt ein Restaurant mit 1000 Plätzen.

Nicht nur die Halle lohnt den Besuch, auch ihre Umgebung zählt zu den spannendsten und doch kaum bekannten der französischen Hauptstadt: Paris Rive Gauche nannte man das ehemalige Industrie- und Betriebsgelände, als es ab den 1990er-Jahren zu einem neuen Stadtviertel umgebaut wurde. Das Who's who der französischen und internationalen „Starchitects“ durfte sich am Seine-Ufer austoben – von Ricardo Bofill über Norman Foster bis Christan Portzamparc.

Um das Gebiet zu entdecken, spaziert man von der Station F noch ein paar Schritte die Rue du Chevaleret entlang bis zu einer provisorischen Treppenanlage, die über die Rue Émile Durkheim in Richtung Nationalbibliothek führt. Dominique Perraults monumentales Bauwerk, dessen vier Speichertürme an geöffnete Bücher erinnern, ist unbedingt eine Besichtigung wert.

Rendering Station F
Rendering Station FPatrick Tourneboeuf

Globen für Ludwig XIV.

Am besten beginnt man auf der Terrasse der Cafeteria beim Haupteingang, von der man den Blick in die Kronen der an einen Klostergarten erinnernden Kiefern aus einem normannischen Wald genießt. Das Gartengeschoß im Keller ist Wissenschaftlern vorbehalten, Besucher können aber den Innenhof umrunden und dabei die prächtigen Globen bewundern, die Vincenzo Coronelli für Sonnenkönig Ludwig XIV. angefertigt hat.

Nur wenige Schritte sind es von der Bibliothek zu den Frigos, einem 1921 erbauten, mit Graffiti verzierten Kühlhaus. Das massive Gebäude war notwendig geworden, da der Erste Weltkrieg die großen Weidegebiete im Nordosten des Landes verwüstet hatte und erstmals Rindfleisch im großen Stil nach Frankreich importiert werden musste. Ende der 1960er-Jahre zogen Künstler und Handwerker in das nicht mehr genützte Haus. Dessen 60 Zentimeter starke, beidseitig durch je 30 Zentimeter Kork isolierte Betonmauern ermöglichen die Koexistenz unterschiedlicher Berufe: Schneider, Musiker, Bildhauer, Journalisten, Fotografen, Drucker, Schauspieler, Instrumentenbauer und viele andere können hier arbeiten, ohne einander zu stören. 1992 sollte der Betonkoloss abgerissen werden, doch die Mieter des Künstler-Kühlschranks wehrten sich erfolgreich. Christian Portzamparc musste seinen Entwurf ändern, die Frigos stehen heute wie ein gallisches Dorf trutzig inmitten des Neubauviertels. Gegen Voranmeldung oder an den Tagen der offenen Tür kann man einige der siebenundachtzig Werkstätten besuchen.

Durch den von Studenten bevölkerten Park gleich hinter den Frigos gelangt man zur Universität Paris VII, einer ehemaligen Getreidemühle. Spaziert man die Seine entlang stadtauswärts, landet man bald bei einer Architekturschule in einer früheren Druckluftfabrik. Dazwischen besticht das Viertel durch vielfältige und abwechslungsreiche zeitgenössische Architektur, Häuser mit relativ kleinen Grundrissen auf schmalen Parzellen. Die Erdgeschoße sind belebt, statt Garageneinfahrten gibt es Buchhandlungen, Kinderkrippen und Cafés.

Einen reizvollen Kontrast zu Paris Rive Gauche bietet das Viertel Les Olympiades, nur zwei Straßenbahnhaltestellen oder wenige Gehminuten entfernt: Die in den 1960er-Jahren erbaute Anlage gilt als Pariser Chinatown und führt eindrucksvoll vor Augen, wie sehr sich Geschmack und Ansprüche an die gerade neueste Architektur seither geändert haben. Die Wohntürme sollten eigentlich die obere Mittelklasse anziehen, doch die kam nicht. Stattdessen trat eine unerwartete Gruppe von Interessenten auf den Plan: Zehntausende Flüchtlinge aus Südostasien, die zuerst vom Indochina-, später vom Vietnam-Krieg heimatlos gemacht worden waren, siedelten sich im 13. Arrondissement an – eigentlich müsste der Stadtteil Indochinatown heißen. Hauptstraße des Viertels ist die Avenue d'Ivry, eine belebte Verkehrsader voll fremder Schriftzeichen und kosmopolitischem Straßenleben. Keinesfalls sollte man an der etwas versteckt in einer Einfahrt gelegenen Zentrale von Tang frères vorbeigehen, einem asiatischen Einkaufstempel, in dem man von getrockneten Instant-Quallen für den schnellen Hunger bis zu handgeschmiedeten thailändischen Hackmessern alles bekommt, was man für die asiatische Küche braucht.

Über eine Rolltreppe geht es durch eine Einkaufspassage auf die Plattform der Anlage, von der der Blick über die Gleise eines Güterbahnhofs und die Pavillons am anderen Ende schweift. Deren geschwungene, „chinesisch“ aussehende Dächer sind purer Zufall – die waren zur Bauzeit gerade modern. Zur Ruhe kommen kann man hier oben im gastfreundlichen Teochew-Tempel. Wem das zu beschaulich ist, der bricht wieder in Richtung Paris Rive Gauche auf – zur nächsten Großbaustelle: Jean Nouvel baut am Stadtrand mit dem Doppel-Wolkenkratzer „Duo“ die Landmark, die dem Viertel trotz Freyssinets Halle noch fehlt.

PARIS ABSEITS DER TRAMPELPFADE

Station F: 55, Boulevard Vincent Auriol, 75013 Paris. www.stationf.co (Métro Chevaleret oder Bibliothèque François Mittérrand)

Les Frigos: 19, Rue des Frigos, 75013 Paris. www.les-frigos.com

Incubateur de fraîcheur: Der „Frische-Inkubator“ bietet gleich neben der Halle Freyssinet Bio-Lebensmittel und gesunde Mittagsgerichte an: 151 Rue du Chevaleret, 75013 Paris.

La Mer de Chine: 159, Rue du Château des Rentiers, 75013 Paris. 01 45 84 22 49. Ein einsames Restaurant inmitten seelenloser Blocks, in dem es gegen Mitternacht aber immer voll wird: Da kommen die Köche der chinesischen Restaurants des Viertels hierher, um richtig gut kantonesisch zu essen.

Mondole kiri: 159, Avenue de Choisy, 75013 Paris (www.mondolekiri.fr). Raffiniert, freundlich und nicht einmal teuer ist dieses kambodschanische Restaurant, in dessen Küche frische Kräuter und Früchte die Hauptrolle spielen.

Empire des thés: 101, Avenue d'Ivry, 75013 Paris. empiredesthes.fr. Ruheinsel und Tee-Oase inmitten Indochinatowns.

Hotel Pavillon: Wer sich für Pariser Neuheiten interessiert, aber lieber in der Nähe der wichtigsten klassischen Sehenswürdigkeiten wohnt, ist mit dem Hôtel Le Pavillon gut beraten. Nur vier RER-Stationen von der Bibliothèque François Mittérrand entfernt laden die fünfzehn kleinen, aber individuell eingerichteten Zimmer des ehemaligen Klosters im Wortsinn zum Entspannen ein. Frischluftfilter sorgen für freien Atem, zudem sind einige Zimmer durch Spezialanstriche und -vorhänge vor Strahlung und Magnetfeldern abgeschirmt. Dass es vitalisiertes Wasser zu trinken gibt und nur Bio-Reinigungsmittel verwendet werden, versteht sich da fast von selbst. Der Eiffelturmblick vom Eingang aus auch. Hôtel Le Pavillon – Green Spirit Hotels: 54, Rue Saint-Dominique, 75007 Paris.hotel-lepavillon.com

Compliance-Hinweis: Der Autor wurde von Atout France unterstützt.

Georg Renöckl verfasste auch den charmant-kundigen Paris-Guide „Paris abseits der Pfade“, Braumüller Verlag.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.10.2017)

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