Freiraum Berlin: "Da ist noch viel Luft drin"

(c) APN (Jens Schlueter)
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Büros in mobilen Containern, Bars in Wohnwagen, eine ständig weiterwandernde "Szene" und zwanglose Provisorien: Die Berliner sind findig und flexibel. Die vielen Brachen kommen ihnen dabei entgegen.

Es ist ein weites Feld, wahrlich: knapp 400 Hektar, mit freiem Auge fast nicht zu überblicken. Buntes, pralles Leben wie in einem modernen Brueghel-Bild, das sich dem Besucher auf dem aufgelassenen Flughafen Tempelhof bietet: Picknicks, Grillfeste, Ball- und Frisbeespiele, Drachensteigen, Rollerbladen, Radfahren. Kinder in Leiterwagen, Hunde, die Herrchen oder Frauchen hinter sich her zerren, ein stetiger Strom von Berlinern, Decken unter dem einen, Fladenbrote unter dem anderen Arm eingeklemmt. Manche mit Einkaufswagen, die Last der Freizeitausrüstung ist einfach zu groß. Viel Grün und endlose Landebahnen, im Hintergrund das Flughafengebäude und zwei verlassene Flieger.

„Es gefällt mir hier very good“, schwärmt Carlo (14), „es ist super zum Grillen und Chillen“. Bei schönem Wetter trifft sich die kurdische Familie am Wochenende auf dem Flughafengelände, bis zu 20 Personen genießen stundenlang den „angenehmen, weitläufigen Platz“, sagt Onkel Ramazan. Familienboss und „Grillmaster“ Sabri ist eifrig am Werk und bietet auch Familienfremden großzügig Köfte an. Kind und Kegel suchen derweil unter den nur spärlich vorhandenen Bäumen Abkühlung. Ein bisschen mehr Schatten wäre gut, vielleicht eine Schwimmhalle – „doch die werden hier sicher was machen, wo die Stadt dran verdient, aber die Bürger nichts davon haben“, fürchtet Ramazan.

Auch die Studenten, die ein paar Meter weiter lagern, umringt von ihrer Fahrradflotte, wünschen sich „mehr Bäume“; grüner sollte es werden, schön wäre ein Badesee. Heute gibt's ein Picknick, „aber ich werde hier sicher auch laufen gehen“, sagt Betti. Von der Größe des Geländes sind die Studenten begeistert: „Man kann ziemlich weit gucken dafür, dass man mitten in der Stadt ist“, so Nicolas.

Riesenpark mitten in der Stadt.
Die Berliner fliegen auf das Tempelhofer Feld, schon nähert sich die Besucherzahl seit der Öffnung Anfang Mai der Eine-Million-Marke. Und Leute wie Ramazan können beruhigt sein: „Der Park wird dauerhaft bestehen“, heißt es in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Es gehe nicht nur um das Freizeitangebot „ohne Grenzen, in einem grenzenlosen Gebiet“, sondern auch um die „wichtige stadtklimatische Funktion der Grünfläche. Wo hat man schon die Chance, mitten in der Stadt einen so großen Park hinzuzufügen?“

Im gleichen Atemzug verändert sich auch das „Städtchen drumherum“. Tempelhof grenzt an Kreuzberg und Neukölln, schon spricht man von „Kreuzkölln“, einem Ort, der neuerdings magnetische Wirkung entfaltet. Wieder zieht die Szene weiter – dorthin, wo sich neue Möglichkeiten eröffnen. Prenzlauer Berg ist längst passé, weil zu künstlich und kinderwagen-verstopft, der letzte Club hat den Stadtteil verlassen. Friedrichshain gilt noch als cool, steht aber auf der Liste nicht mehr ganz oben. Die beiden Musiker Red (37) und Nina (35) sind, wie so viele andere, gerade nach Neukölln gezogen. „Hier sieht es so aus, wie ich Berlin vor 25 Jahren kennengelernt habe“, sagt Red, „ein gewachsenes Viertel, alter Westen, halblegale Kneipen, Ausländer, sozial schwächere Schichten und Kreative“. Für viele die ideale Mischung. „Hier ist es so, als ob die Leute ihr Wohnzimmer zur Kneipe machten.“


Mit Kunst Geld verdienen. Oder umgekehrt die Kneipe zum Wohnzimmer. Wie im Café Dritter Raum: „Die meisten Leute, die ich kenne, wohnen in Zwei-Zimmer-Wohnungen“, sagt der Betreiber Rolf (28), hauptberuflich Student, „mein Café ist für sie als drittes, öffentliches Wohnzimmer gedacht“. Gemütlich abgewohnt, aber nicht gestylt wie in früheren Szenebezirken, kleine Veranstaltungen, Filmvorführungen. „Hier lebt ein sympathischer Menschenschlag, es passiert 'ne Menge“, erzählt Rolf, der außerdem gerade einen nachbarschaftlichen Tauschring für Dienstleistungen ins Leben gerufen hat. Die Mieten sind noch niedrig. Nina, die neben der Musik näht und bastelt, plant, mit einer Freundin ein Do-it-yourself-Café aufzumachen: „Hier können wir's uns leisten, weil es leer stehende Läden gibt. Wir wollen, so gut es geht, mit unserer Kunst Geld verdienen.“

Nina und Red sind vom Prenzlauer Berg gekommen, wo dies nicht mehr ginge und „permanent Häuser aufgeschickt werden“. Der dortige „Bevölkerungsaustausch“ geht vielen gegen den Strich, viel wird über die Verdrängung der ursprünglichen Einwohner aus ihren Bezirken diskutiert. Christine Hannemann, Expertin für Stadt- und Regionalsoziologie an der Humboldt-Universität, ist aber vorsichtig mit dem Begriff „Gentrifizierung“: „Das ist ein wissenschaftlicher Begriff, der aktuell als politischer Kampfbegriff dient. Es gibt bisher keine Studien, die das empirisch nachgewiesen haben.“ Faktum aber ist, dass in manchen Bezirken ganze Straßen „clean“ gemacht werden: In Mitte etwa ist das legendäre Kunsthaus Tacheles in einer Kaufhausruine an der Oranienburgerstraße von der Schließung bedroht, die bekannte Galerie C/O im alten Postfuhramt vis-à-vis soll wegen des Verkaufs an einen neuen Investor weichen.

Wie gut, dass die Berliner so flexibel und erfinderisch sind, moderne Stadtnomaden, die auch häufige Umzüge nicht scheuen. Laut einer Studie haben seit 1990 zwei Drittel der Bevölkerung ihre Adresse gewechselt. Immer wieder tun sich neue Freiräume zum Leben, Arbeiten und „Abhängen“ auf, gerade die Zwischennutzung macht sie spannend, wie auch die vielen Strandbars an der Spree zeigen.

Zwanglose Provisorien, alles ist im Fluss. Wohnwagen werden als Bars genutzt und verschwinden wieder. Das Kunstkommunikations-Netzwerk Platoon hat einfach Container auf einer Brache in Mitte aufgestellt. Sobald dort gebaut wird, kommt der Kran und Platoon „schwebt“ weiter. Aber Berlin bleibt Hauptquartier – wegen der „angenehmsten Lebensbedingungen“, des „billigen Lebensunterhalts“ und der „freigeistigen Umgebung“.

Armut als Chance.
Berlin sei „arm, aber sexy“, sagte einmal der regierende Bürgermeister Klaus Wowereit. Der notorische Geldmangel der Stadt hat sogar Vorteile. „Armut bietet die Chance, etwas Eigenes zu entwickeln und Flächen für nachfolgende Generationen zu erhalten. Man muss nicht immer gleich alles bebauen“, sagt Hannemann. So sei auch die Mehrheit der Berliner keineswegs enttäuscht, dass sich der Wiederaufbau des Stadtschlosses an jener Stelle, wo in der DDR der Palast der Republik stand, wegen des Sparpakets verzögert. Dadurch ist ein zusätzlicher Freiraum entstanden, eine Wiese an der Spree, die Einheimische wie Touristen gern zur Entspannung nutzen. Dass über die Baupläne endgültig Gras wachsen könnte, ist aber nicht zu hoffen, die Errichtung des Humboldt-Forums für Kunst, Kultur und Wissenschaft im Stil des alten Stadtschlosses beschlossene Sache.

Bleiben aber immer noch genügend Brachen. „Die Freiflächen als Möglichkeitsräume, da hat die Stadt so viele Chancen“, so Hannemann, „das verdeutlicht gerade die Qualität von Berlin“. In anderen Städten wie etwa Wien sei alles zugebaut, die Bewegungsmöglichkeit eingeschränkt. Um etwas Neues zu machen, müsse dort Altes zerstört werden, außer es würde etwa altes Industriegelände frei oder von der Bahn Grund aufgegeben.

In Berlin indes gibt es immer noch Kriegslücken, aber auch Freiflächen, die durch Nachkriegszerstörungen, im Zusammenhang mit der DDR-Bauhistorie und der Anpassung an neue Strukturen entstanden sind, sowie Nach-Wende-Lücken. Sogar Brachen, die von der Stadtplanung Hitlers „übrig blieben“. Laut Hannemann ist da „noch unglaublich viel Luft drin“. Es sei „interessant, wie die Menschen die Freiräume immer wieder erkunden und sich aneignen“. Durch den funktionierenden S-Bahn-Ring werden Gebiete jenseits der Innenstadt urban, weite Flächen harren noch hinter Haupt- und Nordbahnhof, im Spreeraum, am Humboldt-Hafen der Nutzung und Entwicklung. Sobald Schönefeld zum Hauptstadtflughafen ausgebaut ist, wird auch Tegel „frei“.

Selbst Regula Lüscher, Schweizerin und oberste Stadtplanerin Berlins, räumte kürzlich ein, dass sie, seit sie vor drei Jahren in die deutsche Hauptstadt kam, hauptsächlich Parks gemacht habe. Obwohl sie doch eigentlich Senatsbaudirektorin sei.


Neues Leben am Mauerstreifen.
„Insgesamt ist Berlin im Verhältnis zur Bevölkerungsdichte so groß, dass es nie den Druck gab, alles zuzubauen“, sagt die Architektin Laura Fogarasi. Wegen der Mauer bestand 50 Jahre lang kein Investitionsdruck, nach der Wiedervereinigung dauerte es, bis gebaut wurde, und es geht immer weiter. „Es gibt noch viele Filetstücke in Berlin.“ Erst wurden Büro-, Verwaltungs- und Regierungsgebäude geplant, Hauptstadtbüros für die Medien, jetzt ist das Interesse am innerstädtischen Wohnen erwacht. Ironischerweise sei die „gestörte“ Stadt Berlin durch die historische Situation im Vorteil gegenüber gewachsenen Städten, ergänzt Lauras Ehemann Jens Ludloff.

Das Architektenpaar mit zwei halbwüchsigen Söhnen hat an einer einzigartigen Stelle gebaut: dem Mauerstreifen an der Bernauer Straße. Auf dem einst freudlosen, lebensfeindlichen Stück Stadt ist eine pfiffige Reihenhaussiedlung entstanden, in der viele Familien Wohnen und Arbeiten unter ein Dach bringen. „Eine versöhnliche, zukunftsorientierte Rückkehr städtischen Lebens“, sagt Ludloff. Zugleich wird in der angrenzenden Mauergedenkstätte die innerstädtische Narbe erhalten. Ohne die Teilung gäbe es diesen Freiraum nicht.

398 Hektar Grün.
Anfang Mai wurde das Tempelhofer Feld für die Berliner Bevölkerung geöffnet - vorläufig ein Provisorium, der Park soll ab nächstem Jahr landschaftlich gestaltet werden. Der Flughafen war vor knapp zwei Jahren geschlossen worden.

Fast eine Million
Menschen haben das Areal bisher „zum Grillen und Chillen“ sowie für sportliche Aktivitäten genutzt.

Unendlicher Raum.
Berlin wartet mit einem gigantischen Angebot an Flächen auf. Die Brachen stammen aus verschiedenen Phasen, sind Relikte von Hitlers Stadtplanung, Kriegslücken, Nachkriegszerstörungen, Nach-Wende-Lücken.

Die Freiräume
werden von den Berlinern kreativ zum Wohnen, Arbeiten, für Kunstprojekte oder Gastronomie genutzt.

Stadtnomaden.
Stadtteile verändern sich, an die Stelle von Provisorien rücken konkrete Bauprojekte. Die Szene wandert einfach weiter. Seit 1990 haben zwei Drittel der Berliner ihre Adresse gewechselt, viele mehrmals. Neuester In-Bezirk ist Neukölln, ein durchmischter, gewachsener Stadtteil.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.07.2010)

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