Danke Berg, danke Bengt

Danke Berg danke Bengt
Danke Berg danke Bengt(c) Clemens Fabry
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Die Freeride Experience. Pinzgauer Tiefschnee von oben, von außen, von innen. Befahren mit Guides.

Wie gestern um die gleiche Zeit stehen wir an derselben Stelle an derselben Kante. Vor uns liegt der perfekte, das heißt unverspurte Hang. Er geht in eine tief verschneite Alm über, mündet in eine Waldtraverse und verengt sich schließlich zu einem schmalen Tal, durch das wir eine halbe Stunde mehr hinausschieben als hinausfahren. So stark hat sich uns diese Abfahrt eingeprägt, dass wir sie geistig vor Augen haben.

Hinter uns ist die präparierte Piste weggetaucht. Die Nähe zur Zivilisation verrät uns nur mehr eine leichte Pommeswolke. Windböen tragen sie von der Hütte zu uns herüber, die wir da stehen und herumgrübeln. Weil heute auf diesem Grat hoch über dem Glemmtal alles anders ist.

Der starke Wind und der nächtliche Schneefall haben die Spielregeln auf diesem Südhang, der sich gestern noch so vertrauenerweckend vor uns ausgebreitet und uns wie auf Wolken getragen hat, neu aufgestellt. Die Spuren vom Vortag sind gelöscht. Massen von Schnee wurden auf die eine Flanke verfrachtet. Und auf der anderen hat der Wind die Grasnarbe zum Teil freigelegt.

„Wie viel Grad Hangneigung?“, fragt Bengt Lundberg, der schwedische Skiguide unserer motivierten „Freeride Experience“-Truppe. „30, vielleicht 32“, kommt zurück. Kopfnicken. Aber die Prüfung bei „Dr. Snow“ ist damit nicht bestanden. „Da unten nach der Mulde wird es noch steiler. Macht in Kombination mit Lawinenwarnstufe drei also was?“ Da gibt es nichts zu überlegen. Wir kehren um und machen uns auf zur Nordwestseite des Berges. Heute ist ein Tag fürs Skifahren unter der Baumgrenze.

Abstand genügt nicht

Es wird uns später, als wir längst ausgepumpt und glücklich im Gasthaus vor Bier und Bratwurst sitzen, noch einen Stich versetzen, nicht automatisch daran gedacht zu haben: Ein Gefälle über 30 Grad ist unter solchen Bedingungen fatal, das haben wir doch von den Guides immer wieder gehört. Von der traumhaften Abfahrt am Vortag noch in Sicherheit gewiegt, wären wir ohne Bengt vielleicht sogar auf diesen Südhang eingefahren. Was gestern sicher war, ist es auch heute? Was für ein Irrtum.

Möglich, dass wir kein Schneebrett losgetreten hätten. Wir hätten große Abstände, 20, besser 30 Meter zwischen uns gehalten, wären einzeln abgefahren, um die Spannung der Schneedecke nicht zu zerstören – eine Basislektion gleich zum Start der mehrtägigen „Freeride Experience“. Wir hätten uns dabei auch ziemlich sicher gefühlt mit der Ausrüstung, die jeder im Tiefschnee trägt, der auch nur halbwegs bei Trost ist – Schaufel, Sonde, Lawinenverschüttetensuchgerät.

Außerdem haben wir im Schnee ein bisschen geübt und abends davor in der Runde mit Volker Hölzl, dem Kopf der „Freeride Experience“, über alpine Gefahren gesprochen: Hangneigung mit dem Skistecken messen, ein Schneeprofil stechen, das Gelände lesen lernen: Wo sind schneegefüllte Mulden? Wo liegen gefährliche Wechten? Wo könnte sich Triebschnee sammeln?

Umdisponieren gehört zu den ständigen Aufgaben der geprüften Guides wie Bengt Lundberg, Tom Mayr oder Nici Winterstein, denn Wind und Wetter ändern die Gefahrensituation auf dem Berg ständig. In der Früh wird der Wetterbericht gecheckt, mit der Lawinenwarnstufe kombiniert. Die Entscheidung für ein Skigebiet fällt nicht schwer, denn der Ausgangsort des Freeride-Camps ist Thumersbach, ein Ortsteil von Zell am See. Zudem bekommen die Teilnehmer Skikarten für die ganze Region – der Weg zu den Tiefschneegründen erfolgt nämlich konventionell, mit den Bergbahnen. Maximal eine Stunde Anmarsch mutet die „Freeride Experience“ den Leuten zu, vorausgesetzt, sie haben die Felle im Rucksack mit.

Aufwärts mit Hilfe, abwärts mit Antrieb

In der Früh steht man dann oben auf dem Kitzsteinhorn, auf der Schmittenhöhe, im Skigebiet Saalbach-Hinterglemm – und neuerdings auch in Fieberbrunn. Was schon deshalb interessant ist, da Fieberbrunn einen besonderen Stellenwert in der internationalen Freesrideszene hat. Vom Wildseeloder lassen sich jedes Jahr die wildesten Rider die fast Senkrechte hinunter, in dieser Saison ist der Ort auch Fixstarter in der Freeride World Tour – neben Orten wie Chamonix. So entschloss sich Volker Hölzl, der vor sieben Jahren die „Freeride Experience“ auf die Beine stellte, eine wachsende Schar an Tiefschneefahrern nicht nur in sein Heimatrevier, sondern auch über den Berg zu locken, um hinter die Kulissen dieses Big-Mountain-Bewerbs zu schauen.

Unter der Baumgrenze Schneetreiben. Wir spuren weit auf den Bergrücken hinaus, es ist bereits Nachmittag. Einmal biegen wir früher von der Alm- in die Baumzone ab, einmal später. Jedesmal erscheint, wenn wir keuchend – nach zehn Minuten Anstieg – dort ankommen, die Kulisse ein wenig anders. Wahrscheinlich, weil wir alles genauer betrachten können, wenn das Tempo moderat ist. Aufeinander warten, alle paar Schwünge stehen bleiben, sich von Bengt, Nici oder Tom eine bessere Fahrtechnik erklären lassen. Das ist das Fantastische am Freeriden: Der Blick ist offen für die Natur, die am Pistenskifahrer eigentlich nur vorbeifliegt. Die Bäume. Die Tierspuren. Die Kupierungen im Gelände. Die Senken. Die eingeschneiten Steine. Die schockgefrorene Szenerie. Diese unglaubliche Stille. Und der Schrei des Kollegen, der gerade eine Fichte umarmt.

Im Wald muss der Schwung sitzen, der Radius passen. Nicht einmal, sondern mehrmals verkeilt sich einer aus der Freerider-Truppe. Der Tierarzt im Team ist meistens rettend zur Stelle und entknotet Äste und Beine. Uns dämmert: Die Gefahr beim Treeskiing liegt nicht darin, eine Lawine loszutreten, sondern in einem tiefen Schneeloch unter einer Tanne auf immer zu verschwinden. Dort zu erfrieren und erst von Schwammerlsuchern gefunden zu werden, weil man leider kein Schlangenmensch ist, der in zwei Meter tiefem Schnee so locker in die Skibindung zurückfindet. Wie dumm auch, allein herumzugurken. Wir sollen daher zusammenbleiben, darauf achten, was der andere tut. Das wirkt sich noch einmal entschleunigend auf Tempo und Puls aus: stop and go. „Danke, Wald“, sagt Bengt, als wir heil herauskommen. Jemand wie er kennt hier jeden Baum, jeden Stein, jeden Mugel; „Danke, Bengt“, hauchen wir.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.11.2010)

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