Amanshausers Welt: 272 Hongkong

Kleine Geschichten über große Locations.

INFO

Die Chungking Mansions sind die Essenz des authentischen, herzlosen, kosmopolitischen Kowloon. Zunächst wirken sie wie ein Trainingsgelände für Klaustrophobe in Verhaltenstherapie. In diesem grauen, 17-stöckigen Riesenbau wohnen an die 5000 Menschen: Privatwohnungen, Büros, Sweatshops, Massenquartiere für Einwanderer, die legendären Menschenkäfige, und fast in jedem Stockwerk zwei oder drei Guest-Houses oder Pensionen. Der Regisseur Wong Kar-Wei hat in seinem Film „Chungking Express“ (1994) dem Lebewesen, zu dem dieses Gebäude geworden ist, ein Denkmal gesetzt. Heute sind die feuerpolizeilichen Gegebenheiten etwas weniger kriminell, doch der Spirit des Hauses, von dem Wong Kar-Wei in Interviews sagt, er erkenne es nicht mehr wieder (es ist umgekehrt, man erkennt heute seine Filme nicht mehr wieder), pulsiert unentwegt.

Die Digitalkameras sind verbrecherisch, das Mango-Lassi billig, die Drogen mörderisch. Die Neufüllung des Bankomaten im Erdgeschoß wird bewaffnet vollzogen. Die Düfte der indischen Imbissstände vermischen sich mit den Haarstärkemitteln der Asia-Friseure. Pakistanis mit Gelköpfen lungern vor dem Cybercafé, unermüdliche Keiler verschieben mit allerlei Tricks die Lonely-Planet-Crowd, die verbissen eine gehighlightete Billigpension anstrebt, in teurere Unterkünfte. Bärtige flüstern den Neuankömmlingen „New Suit Tailor“ oder „Copy Watch“ zu.

Lebt man ein paar Tage in den Mansions, ebben die Belästigungen ab. Wie durch ein Wunder erkennen die Keiler, dass man zu den vorläufigen Bewohnern gehört. Man steigt dann zielstrebig in den Aufzug, der 4, 8, 12, 16 ansteuert, oder aber die Stockwerke 3, 7, 11, 15. Zum Zeitvertreib blickt man via Kamera ins Innere der Aufzugkabinen, betrachtet Ahnungslose dabei, wie sie sich am Kopf kratzen.

Auf meinen Forschungsreisen durch das Haus blickte ich einmal durch eine offene Tür, hinter der vierzig oder fünfzig Chinesen in Reihen an Nähmaschinen saßen. Ein andermal kletterte ich die Stiegen bis zum Dach. Die tief europäische Angst, von einem Hausmeister zurückgepfiffen zu werden, steckte mir in den Knochen, als ich die Terrasse betrat. Katzen stoben davon, ich stolperte über einen kaputten Fernsehapparat. Über Kowloon ging die Sonne unter. Eine Frau stand an der Brüstung und weinte. Ich wagte nicht, mich ihr zu nähern. Irgendwann war sie weg, und die Sonne dann auch.

Chungking Mansions, erbaut 1961, 36–44 Nathan Road, Tsim Sha Tsui, Kowloon, Hongkong.

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