Amanshausers Welt: 384 Schweiz

(c) Beigestellt
  • Drucken

Kleine Geschichten über große Locations.

In Zürich wanderte ich die Limmat entlang, jedes Mal, verlor mich in Gassen. Das erste Mal geschah mir das im Jahr 1987. Diese Weltstadt, sie atmet Internationalität mit einer Überzeugungskraft, die das weinselige Wien nie erreichen wird. Auf ihrem Boden gedeihen Messer, Uhren, Waffen. Schokolade und eine Art von nationalistischer Liberalität und Diminutive, die es sonst nirgends auf der Welt gibt, das Gipfeli, das Ruebli, das Muesli.

Immer, wenn ich es am wenigsten erwartete, stand ich unversehens vor dem Cabaret Voltaire. Auch diesmal stand ich wieder da. Hier waren Emmy Hennings, Tristan Tzara und Hugo Ball ein- und ausgegangen. Klar, alles umgebaut, kein Stein mehr derselbe, doch der Ort blieb magisch. In den Neunzigerjahren hatte ich die Räumlichkeiten mehrmals betreten, und immer war da eine Frau mittleren Alters gesessen, ein Bier trinkend. Jetzt war ich zurück. Ich war aufgeregt, würde ich der Frau mit dem Bier wiederbegegnen?

Wie jedes Mal an diesem Ort verfertigte ich zunächst einige Abbildungen von mir selbst, und zwar mit zugehaltenem Auge. Ich weiß nicht, wieso, aber es hat mit Dada zu tun. Schon 1987 hatte ich das getan.

Im Lokal las ich, das Cabaret Voltaire hätte erst seit 2002 wieder eröffnet. Doch in welchem Voltaire war ich dann früher gewesen? In einem anderen Lokal, das ihm ähnelte? Ich erinnere mich an wenig. Einzig an diese Frau mittleren Alters, die vor einem großen Bier saß und kleine Skizzen in ein Notizheft zeichnete. Auch heute, fünfzehn Jahre später saß sie im Voltaire. Sie wirkte keinen Tag älter. Als ich eintrat, hob sie kurz den Blick. Wurden hier sich ähnlich sehende Frauen von den Eidgenossen alle paar Jahre ausgetauscht?

Die Frau winkte mich zu sich, und ich folgte der Geste. Aus der Nähe wirkte sie verrückter und betrunkener, als ich gedacht hatte. „ Ja bitte?“, sagte ich. „Sie kommen nur mehr selten“, sagte sie mit einem Tadel in der Stimme. „Darf ich Ihnen ein Bier spendieren?“, fragte ich. „Seltsames Wort, dieses Spendieren, gerne, aber lassen Sie mich dann alleine.“ Ich zitterte, nickte und ging zum Tresen, das fremde Bier zu bestellen. Ich erwartete, dass der Barmann sagte, „dort drüben sitzt gar keine Frau“, doch er füllte schweigend ein Glas für sie. Ich ging fort, hinaus in die Nacht, an die Limmat. Mir war kalt. Immer, wenn ich es am wenigsten erwarte, muss ich an das Gipfeli denken, das Ruebli, das Muesli.

Ort

Geisterfrau. Im Cabaret Voltaire, www.cabaretvoltaire.ch, wurde 1916/17 der Dadaismus geboren,
Spiegelgasse 1, 8001 Zürich, Schweiz.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.