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Lokführer Martin: auf der schwierigen Strecke die ­Ruhe in Person.
Lokführer Martin: auf der schwierigen Strecke die ­Ruhe in Person.(c) Beigestellt
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Kleine Geschichten über große Locations.

Martin Balz sitzt so entspannt auf dem Führerstand wie andere auf dem Bürosessel – allerdings im Triebwagen der Rhätischen Bahn. 123 Tonnen hat der Lokführer heute unter seinem Hintern, sechs Wagen, 24 Achsen. Der Mann ist ein klassisches Opfer seines Kindheitstraums, und immer noch glücklich damit: „Ich wollte Lokführer werden. Bis ich 25 war, war mir das völlig klar. Dann erst hab ich mir Gedanken gemacht, was mach ich, wenn das jetzt nicht klappt.“ Es klappte hervorragend. Die Schmalspurstrecke schlängelt sich über Stationen wie Bernina Suot und Bernina Diavolezza dem Pass entgegen, mit seiner Wasserscheide – ein Abfluss ins Schwarze Meer, der andere in die Adria. Martin bleibt immer ruhig. Nur bei Ospizio Bernina knurrt er ein bisschen, weil jemand die Abfahrt verzögert: „Jetzt stehen sie mir in der Türe. Das ist das Tolle.“

Wirkungsbremsprobe auf dem Pass. Martin zeigt mir ein Erdmännchen, „mit der Zeit kriegt man ein Auge dafür“. Auch Steinböcke, Hirsche, Rehe und Gämsen sieht er hier gelegentlich, „vor Kurzem haben wir leider sogar einen Bären überfahren“, erzählt er, ohne sich selbst zu meinen, „danach gab es eine Welle der Empörung – die Leute kennen unseren Bremsweg nicht“. Von 70 auf 0 benötigt er zweihundert Meter. „Ab der nächsten Galerie geht es 60 Promille abwärts, wenn eine der beiden Bremsen nicht funktioniert, wäre die Einfahrt zu gefährlich.“ Kurzer Stopp beim einsamen Bahnhofsgebäude (und gleichzeitig schicken Hotel) Alp Grüm: „Viele Touristen steigen kurz aus, die das erste Mal Schnee sehen und angreifen. Das ist lustig zum Schauen.“

In dieser altgedienten Lok ist Martin meist allein, bei den modernen Garnituren trennt ihn eine Glasscheibe von den Passagieren. „Ob ich das mag? Kommt auf die Tagesform an. Ich zeige den Leuten immer gern eine Hirschkuh auf einem Schneefeld oder so. Aber wenn man da schlecht drauf ist, denkt man manchmal, heute vertrag ich’s irgendwie nicht . . . Außerdem lenkt es ab, unter Um­ständen kann es ja hilfreich sein, wenn man auf der Strecke etwas früher sieht.“ Vorbei an Gletschermühlen und durch die großartigen Mäander bei Cavaglia, Cadera und Privilasco – Martin Balz behält die Ruhe, er fährt ohne Blick auf den Fahrplan: „Das hilft nichts. Bin ich etwas zu spät dran, kann ich auch nicht mit 33 statt mit 30 den Berg runterfahren.“ Wir erreichen Poschiavo, hier hat der Lokführer drei Stunden Pause – und großen Appetit auf eine Pizza.

Ort

Bubentraum. Der Autor war eingeladen von der Rhätischen Bahn, www.berninaexpress.ch;

Führerstandfahrt Pontresina – Alp Grüm – Poschiavo (Puschlav), Graubünden, Schweiz.

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