Amanshausers Welt: 449 USA

(C) Beigefügt
  • Drucken

Kleine Geschichten über große Locations.

In New York frühstücke ich auch diesmal in Yonah Shimmel’s Knish Bakery – die Nachkommen dieses Shimmel oder Schimmel, einst ein ambulanter Verkäufer mit Scheibtruhe, betreiben dieses kleine Café seit 1910. Ich lese Zeitungen, packe mein Notebook aus, esse einen Knish mit Heidelbeerkäse (falls man „blueberry cheese“ so wiedergibt), der aus der Backstube im Souterrain per Lastenaufzug herauftransportiert wird. Bei Shimmel stimmt die „Zeit stehen geblieben“-Phrase. In den 1920er-Jahren war der Knish sicher genauso. Und bereits berühmt. Seit 50 Jahren – heißt es in einem Artikel in „The Underground Gourmet“ 1968 – tauchten Politiker vor Wahlen hier auf, um jüdische Stimmen zu fangen. Aber: „Du musst nicht Jude sein, um Knish zu essen“, sagt die Aufschrift. Obwohl man dafür gern Jude werden würde, denke ich.

Der Knish – keine Hefe, kein Ei, kein Öl, nur Kartoffelteig und Fülle – liegt schwer im Magen, es dauert ein paar Stunden, bis der nächste Hunger kommt. Mr. Wolfson, Nachfahre Shimmels, lässt mich in aller Ruhe sitzen. Wir ignorieren einander auf sehr angenehme Art, außer, wenn ich Tee oder Borschtsch im Becher bestelle. Er bedient alle seine Besucher mit gleichermaßen europäischer Laune – brummig, fast, als wären wir in Wien. Seine Tochter, die manchmal im Laden zu sehen ist, macht im Vergleich dazu amerikanische Miene.

Polnischer Schwammerlhändler. An-schließend begebe ich mich ein paar Häuser weiter zu Russ & Daughters, Feinkostladen. Im Gegensatz zum ruhigen Shimmel wurlt der vor Menschen. Russ hat das 21. Jahrhundert erreicht, alles renoviert, schicke Website, geschmackvoll, schade. Joel Russ, polnischer Schwammerlverkäufer, zog 1920 in dieses Lokal ein. Damals war die Lower East Side rundum mit einer halben Million Einwohnern eines der am dichtesten besiedelten Viertel der Welt, und er hatte sicher nicht weniger Umsatz als jetzt. Ich lasse mir ein paar seiner „forshpaysn“, wie das auf Jiddish heißt, einpacken. Gefilte Fish, eingelegter Hering und baltischer Wildlachs, so dünn geschnitten, dass man eine Zeitung hindurch lesen kann, ja so dünn, dass er, wie man sagt, „nur eine Seite hat“.

Meine Tasche fühlt sich nach dem Einkauf so leicht an. Ich meine, verdächtig leicht. Aha, mein Notebook! Ich renne zurück zu Shimmel. Dort steht das Notebook, angeschaltet, warm. Aus Mr. Wolfsons Gesicht kann ich keinerlei Erstaunen ablesen. Nun gut, noch einen Knish!

www.amanshauser.at

Ort:

Jüdische Spezialitäten. Yonah Shimmel’s Knish Bakery bzw. Russ & Daughters, East Houston Street 137 bzw. 179, New York City, USA. Der Autor war privat unterwegs.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.