Die Welthauptstadt des Tattoos

Ich stehe zu meiner Individualität und Andersartigkeit: Ich bin nicht tätowiert.

Greift eine ansteckende Hautkrankheit um sich? Nein, Wien etabliert sich bloß als Welthauptstadt des Tattoos. Der lose Lokalaugenschein in europäischen Metropolen oder auch in der Welt von Toronto bis Peking belegt: Nirgendwo wird die Dermis so hingebungsvoll mit Tinte punktiert wie hier.

Wir reden nicht vom kleinen Peckerl, mitgenommen als Souvenir einer Nacht in Amsterdam oder Bangkok, von der man sonst nicht mehr viel weiß. Was allerorten dargeboten wird, sind großflächige Hautcomics, bunte Unterarmfresken, die offenbar mächtig beeindrucken sollen. Macht das eigentlich schon der DM-Frisör?

Jeder soll sich nach Herzenslust pecken, piercen, branden und bleachen, aber dass man diese Meisterwerke der Wohlstandsverwahrlosung ständig bewundern muss, nervt etwas. Freizügig von der Speckwade bis zum Schinkenärmel werden Runen, Fabelwesen, Schriftzeichen und Telefoniergekritzel ausgestellt. Ein Bausparer fürs Kind? Voll ungeil, es wird ein Porträt auf dem Schulterblatt! Der Fahrkartenkontrolleur letztens war so tätowiert, dass früher jemand die Polizei gerufen hätte.

Heute gähnt man über diese neue Form der Hinterglasmalerei. Dabei soll es verwegen und gefährlich wirken. Aber ehrlich, so viele Yakuza, Wory (die russischen „Diebe im Gesetz“) und Hells Angels – grad in der U-Bahn! – kann es in Wien gar nicht geben.

Sollte doch einmal ein Job verwehrt bleiben, weil man verziert ist bis zu den Ohren, wie es gerade einem Bewerber bei der Münchner Polizei widerfuhr: Einfach bei der Sache bleiben. Motto: Ich mach den Tätowierer beim Humboldt!

timo.voelker@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.08.2014)

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