Stadtviertel: Atmosphäre statt Statistik

Eine lange Gasse, ein Branchenrevier, ein Platz am Wasser: Wie ein Wiener Grätzelbericht in die Tiefe geht und Stimmungsbilder hervorbringt.

Ein Grätzel lebt vom Mikroklima, von Unterschieden, weniger vom Neuen als vom Alten: Die angestammten Kleinunternehmen, Geschäfte, Werkstätten und – ganz wichtig – Gastronomiebetriebe machen die Atmosphäre vor Ort aus. Manchmal begegnet Petra Menasse-Eibensteiner, die Redakteurin des „Grätzelberichts“ von JP Immobilien auf ihren Recherchen auch guten Geistern. Im Hotel Urania, gleich hinter dem Donaukanal in Wien Landstraße verwandelt einer von diesen den Vorplatz zu einer Grünoase und kocht Mittagessen für die Belegschaft. Das Weißgerberviertel kennt er naturgemäß wie seine Westentasche – und erzählt gern, wie stark oder wie wenig es sich verändert hat. Bei solchen Touren in das Innere von Wien führt die Recherche auch in (immer seltener existierende) Traditionsbetriebe, die seit Generationen (immer rarer) am gleichen Standort agieren, wie etwa Carl Reiner in der Mariannengasse, wo medizinische Geräte noch vor Ort entwickelt und produziert werden. Die Mediziner müssen sie nur über die Gasse holen kommen, sie arbeiten schließlich nicht weit weg: Das Grätzel um Mariannengasse, Pelikangasse und Altes AKH hat zu den ersten in Wien gehört, das einer ganzen Branche gewidmet war. Wenn Menasse-Eibensteiner für den „Grätzelbericht“ dann noch auf einer langen Straße wie der Zieglergasse unterwegs ist, entdeckt sie in Wirtshäusern wie dem Zur Stadt Krems, Überraschungen wie eine alte Kegelbahn. Solche Geschichten mögen auch potenzielle Grätzelbewohner.

Größere Immobilienunternehmen geben regelmäßig Marktberichte mit mehr oder weniger viel statistischem Material und analytischen Texten heraus. Seit einiger Zeit zeigt JPImmobilien einen anderen Einblick in die Wohnumfelder Wiens, indem es „Grätzelberichte“ produziert: Jeweils drei Reviere werden näher betrachtet und neuerdings auch kurze Filme gedreht, die man auf der Homepage und auf YouTube sehen oder als App herunterladen kann.

Emotionen und Wohnumfeld

Diese siebenmüntigen Videos fangen den Lokalkolorit ein und zeigen Begegnungen mit echten Locals. Bewusst verliert der Bericht kein einziges Wort über das aktuelle Wohnungsangebot, Preise oder geplante Neubauprojekte. Welche Grätzel ausgesucht werden, das allerdings entscheidet JP Immobilien auf Basis der Rückmeldungen seiner Makler bezüglich Angebot, Nachfrage und Trends, hat Geschäftsführer Martin Müller vor Kurzem bei der Präsentation im Badeschiff erklärt. Vielleicht könnten Wohnungssuchende oder Investoren aber dadurch auf die Idee kommen, sich die aufstrebenden Gegenden ein wenig näher anzusehen. „Der Wohnimmobilienmarkt ist hochemotional“, sagt Daniel Jelitzka über das Projekt, das bereits die Areale um den Westbahnhof, das Sonnwendviertel in Favoriten und die Auhofstraße in Hietzing beleuchtet hat. Zugleich kennen auch langjährige Stadtbewohner andere Grätzel oft gar nicht gut und müssen erst angeregt werden, etwas über die Grenzen hinauszublicken. Bei manchen Postleitzahlen gebe es gar einen „Bezirksnobismus“, meint Müller. Der Fokus auf die Grätzel solle jedenfalls den Individualismus in Wien unterstützen, betont Jelitzka.

In Ausgabe drei galt dem Donaukanal ganz spezielles Augenmerk: „Überall in Europa liegen die teuersten Immobilien am Wasser, in Wien ist das nicht so“, wundert sich Müller. Wobei die Substanz gerade im dritten und neunten Bezirk am Donaukanal besonders sei: herrschaftliche Wohnhäuser, meist um 1910 errichtet und bereits mit späteren Selbstverständlichkeiten wie Liften oder Zentralheizung ausgestattet. Und vor allem: mit unverbaubarem Blick.

WOHNREVIERE

Zieglergasse, 1070 Wien: gründerzeitliche Bebauung, früher viele Handwerksbetriebe. Preise im Bezirk: Eigentumswohnung mittlerer Wohnwert im Erstbezug durchschnittlich 3198,50 €
Mariannengasse, 1090: Rund um die frühere Poliklinik und Altes AKH haben sich Medizintechnik und Dienstleistung angesiedelt. Preise (vgl. oben) 3450 €

Weißgerberviertel, 1030: zum Teil herrschaftliche Gründerzeithäuser entlang des Donaukanals. Preise (vgl. oben) 3309,40 € [ Quelle: Immobilien-Preisspiegel 2014 ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2014)

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