Am Anfang war der Lehm

Hausgeschichte. Ein alter Streckhof im Weinviertel wurde musterhaft für heute adaptiert. Seine Bausubstanz stammt zum Teil von vor der Haustür.

So manches alte Haus in Weinviertler Straßendörfern steht leer. Die Bewohner sind in neu gebaute Gebäude an den Ortstrand oder gleich weggezogen, weil ihnen die schmalen, aneinandergereihten und nur durch ein Tor getrennten Streck- und Hakenhöfe zu klein, zu dunkel, zu unkomfortabel wurden. Und weil ihnen Bauweise und Baustoffe der sozusagen modernen Häuser allemal besser, hochwertiger anmuteten: Dem Lehm, aus dem die meisten traditionellen Gebäude in den Weinbaugemeinden bestehen, haftet das Image des Ärmlichen, des archaisch Improvisierten an. Wer früher etwas auf sich hielt, errichtete ein Ziegelhaus, erklärt der Holzbauarchitektur- und Materialexperte Andreas Breuss.

Dabei gibt es aus heutiger Sicht nicht viel, das nachhaltiger und bauökologischer scheint als ein Objekt in massiver Lehmbauweise: „Man hat mit dem Material gearbeitet, das direkt vor der Haustür war. Der Lehm liegt hier nur wenig unter der Humusschicht. Und das Stroh von den Feldern, die Zweige aus dem Obstgarten und die Steine neben dem Weg ließen sich als Zugabe für den Lehm verwenden.“

Gebaut wurden die Häuser nicht mit luftgetrockneten Lehmquadern, sondern in Lehmwellertechnik: „Der mit Zugaben vermischte Lehm wurde in einem langen Haufen ausgelegt und in die Höhe aufgeschichtet“, erläutert Breuss eine Technik, die nur mehr wenigen Handwerkern geläufig ist. Zum Schluss wurden die Unregelmäßigkeiten in der Wandkonstruktion mit einem speziellen Spaten begradigt. Zuoberst, wo man mit dem Aufschichten nicht mehr hinkam, wurden kleine Steinquader eingesetzt – wie Verschlusssteine halten sie die Lehmmauer und die leichte Fensterwölbung zusammen. Vieles hat Breuss bei dem Haus in Mitterretzbach belassen: Um etwa die Türstürze nicht zu verändern, senkte er das Bodenniveau. Um mehr Platz im Freien auf dem langen, schmalen Grundstück zu schaffen, wurden der Saustall abgerissen und im hinteren Teil des Hauses über Eck bündige Glasfenster eingesetzt, an der eine Pergola andocken konnte. Wenn man weiß, wie und wo, lassen sich in solcher Substanz gut nachträgliche Öffnungen schaffen. Die Transformation des Lehmhauses in Mitterretzbach liegt ein paar Jahre zurück, wirkt aber aktueller denn je. Umso mehr, als das Interesse an der Erhaltung von bäuerlichem Hausbestand im Dorfverbund wächst und sich die hervorragenden Eigenschaften von natürlichen Baustoffen wie Lehm, Stroh und Holz herumgesprochen haben. Vor Kurzem erhielt das 150 Jahre alte, umgebaute Ensemble eine Anerkennung beim NÖ Kulturpreis 2016 in der Sparte Architektur.

Lehm kommt den modernen Wohnbedürfnissen sehr entgegen, er kann Feuchtigkeit und Gerüche binden, vor allem aber das Raumklima regeln. Durch ihre enorme Speichermasse können Lehmhäuser im Sommer die Räume kühl und im Winter warm halten.

Experimente und Musterhaus

Vorausgesetzt, die Anwendung beschränkt sich nicht allein auf Lehmputz, vielleicht auch noch mit konventionell gedämmten und verschalten Wänden (Styropor, Gipskartonplatten). In einem natürlichen, chemiefreien Haus braucht es Materialien, die allesamt diffusionsoffen und kapillar leitfähig sind, etwa Schilfmatten zwischen Holzwand und Lehmputz oder Strohballen zwischen den Planken eines Holzständerbaus, alles Bereiche, in denen Breuss seit 2005 experimentiert, Messungen anstellt und Prototypisches herausarbeitet: Das Objekt ist eine Art Musterhaus. Mittlerweile verwandelt Breuss ein nächstes Lehmhaus in Unterretzbach, einem alten Gebäude in Etsdorf fügte er einen raffinierten Annex aus Holz hinzu. Und dass sich Lehm auch im städtischen Umfeld gut macht, zeigt ein neu ausgebautes Dachgeschoß im 15. Bezirk.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.11.2016)

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