Selbst organisiert: Die Mitmach-Grätzln

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Baugruppen könnten jetzt in Wien das finden, was sie suchen: Selbstbestimmung und geeignete Grundstücke.

Das Wohnen, die Stadt. Und selbst die Partizipation: Alles wird auf die Version 2.0 aktualisiert. Mitgestalten statt stumm nutzen – das gefällt den Berlinern so gut, dass sie eigenständig Zebrastreifen auf die Straße malen, wo es die Stadt nicht tut. Ähnlich übermotiviert sind die Wiener noch nicht: Eigeninitiative hat bislang wenig Raum, weder in den Köpfen noch auf dem Stadtplan. Jetzt stellt Wien jenen ein paar Häppchen Stadt zur Verfügung, die selbst formen wollen, wie sie wohnen. Einige Grundstücke werden zu Experimentierfeldern, auf denen sich selbstbestimmte und -organisierte Baugruppen auch als Instrumente der Stadtentwicklung profilieren dürfen.

„Die Baugruppe ist ein Modell, das den Wienern kaum bekannt ist“, sagt Architekt Fritz Oettl von pos architecture, der den Verein „Gemeinsam bauen und wohnen“ mitgegründet hat. Viele Wiener stehen noch etwas ratlos im Wald der Fragezeichen, umringt von neuen Möglichkeiten der Selbstverantwortung und Mitbestimmung. „In Hamburg und Berlin werden in größeren Neubaugebieten schon länger bestimmte Parzellen für Baugruppen reserviert“, erklärt der Soziologe Raimund Gutmann von wohnbund consult. In Wien sind Baugruppen hingegen noch weit weg von urbaner Selbstverständlichkeit. Die Gemeinschaft B.R.O.T. realisierte bislang Projekte mit spirituellem Hintergrund, in Hernals sowie in Kalksburg. Und auch die „Sargfabrik“ hat vorgezeigt, wie gemeinschaftliches Planen und Leben funktionieren kann.

Spielräume für selbstbestimmtes Wohnen

Eine neue Phase könnte für das Modell „Baugruppe“ dort beginnen, wo noch nichts ist, aber viel werden soll: Im Sonnwendviertel etwa, in der Nähe des Hauptbahnhofs Wien, wo zwei Parzellen für ein kooperatives Modell zwischen Bauträger und Baugruppe reserviert sind. „Man muss jedoch Erfahrung mit der Zielgruppe haben“, meint Gutmann. Gut gebildet, mit hohem Demokratieverständnis und ausgeprägten sozialen Kompetenzen – das beschreibt das Profil potenzieller Interessenten. Und wie sich aus ihnen durch Internet- oder realen Kontakt allmählich Gruppen formieren, beobachtet auch Oettl in der Seestadt Aspern. Dort fehlt zwar noch das Wasser für den See, dafür kursieren schon die Wortspiele: „Seestern“ heißt ein Baugruppenprojekt. „Ja:spern“ ein anderes, das Oettl mit pos architecture betreut. Noch sind die Gedanken in der Planung fast so frei wie das gesamte 240 Hektar große Areal, das in Zukunft Stadtteil werden soll. Nur ein paar Punkte sind definiert: etwa, dass das Haus mindestens Passivhausstandard haben soll. Dazu einen Schwimmteich, Sandstrand, einen gemeinsamen Dachgarten, eine Gastküche sowie flexible Grundrisse und Baustrukturen. „Wir haben gelernt, dass wir die nächste Generationen bei der Planung schon mitdenken müssen“, sagt Oettl.

Rund um die Gruppe, die selbst bestimmen will, mit wem sie in welcher Form wohnt, sollte sich für die Umsetzung eines Wohnprojekts noch eine andere bilden: „Ein Team aus Generalplaner, Rechtsanwalt, Soziologe mit Baugruppenerfahrung und Baubetreuer“, erklärt Oettl.

Schwieriger als das Haus lässt sich oft die Gruppe konstruieren, die darin wohnen soll. Schließlich sind die Begriffe „Gruppe“ und „Dynamik“ oft enger miteinander verbunden als die Mitglieder selbst. Auch ambitionierte Freundeskreise bräuchten professionelle Moderation und Unterstützung, meint Gutmann. Und dazu einen „langen Atem und Frustrationstoleranz“. Vor allem auch dann, wenn sie sich während der Planungsphase in verklärter Gänseblümchen-Sozialromantik verlieren: der beste Freund als Nachbar und zwischen den Wohnungstüren nur wohnselige Zufriedenheit, auf dem Fundament gemeinsamer Interessen. „Dann müssen wir sie wieder auf die praktische und ablauftechnische Ebene herunterholen“, sagt Gutmann. Vor allem ausreichend Zeit sei der Boden, auf dem Gruppen gedeihen. Eine Hauruck-Gruppenbildung mit der stadtplanerischen Brechstange funktioniert nicht: „Gruppen und ihre Projekte benötigen auch die richtige Beratungsinfrastruktur, die noch aufgebaut werden muss.“

Soziale Nachhaltigkeit

Nicht nur die Bewohner profitieren vom gemeinschaftlichen Wohnen, sondern auch der Stadtteil, den sie sich aussuchen. „Die Baugruppen können starke Impulse für die Stadt setzen“, meint Öttl. Auf den Grundstücken werden nicht nur aus Wünschen und Bedürfnisse konkrete Grundrisse, Dachgärten und Gemeinschaftsküchen. Sondern auch die Ortsidentität wächst parallel zum Projekt, genauso wie das Verantwortungsgefühl. Und das strahlt weit über die Fußmatten vor den Wohnungstüren hinaus, im besten Fall bis in den öffentlichen Raum.

Um eine ähnliche „Aneignung“ auszulösen, muss die Stadtpsychologin Cornelia Ehmaier in anderen Grätzln schon einige Runden drehen. Mit dem Appell: „Nehmt die Stadt selbst in die Hand.“ Ein Ruf, den viele überhören, genauso wie sie die Möglichkeiten der Mitgestaltung gern übersehen. „Der Response auf unser Projekt könnte besser sein“, bestätigt Oettl. Vielleicht muss man vor der Gruppe noch etwas ganz anderes bilden: „Das Demokratieverständnis und der Self-Empowerment-Level sind in Deutschland viel stärker ausgeprägt“, so Ehmaier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.07.2010)

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