Stefan Scheurer: "Abwarten ist der größte Fehler"

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Allianz-Kapitalmarktexperte Stefan Scheurer hält Aktien keineswegs für überbewertet. Von der Strategie, auf das Ende der Börsenkorrektur zu warten und dann einzusteigen, hält er wenig. So etwas gelinge selbst Profis nicht.

Die Presse: Die VW-Aktie ist kürzlich binnen weniger Tage um 40 Prozent abgestürzt. Wenn das bei einem so etablierten Unternehmen passiert, hat das Auswirkungen auf das Vertrauen in den Aktienmarkt?

Stefan Scheurer: Das glaube ich nicht. Das sind ja unternehmensspezifische Probleme von VW. Der DAX besteht aus 30 Werten. Deswegen sollte man sich breit aufstellen, um solche negativen Entwicklungen, die man bei VW zugegebenermaßen nicht erwartet hätte, durch positive auszugleichen.

Könnte die Affäre ein Auslöser für eine weitere Korrektur an den Börsen sein?

Nein, denn die Konjunktur in Deutschland und Europa ist nach oben gerichtet, wie auch die jüngsten Einkaufsmanagerindizes zeigen. Die Peripherieländer in Europa wachsen, die Arbeitslosigkeit geht zurück, die Kaufkraft ist gestiegen. Daran hat sich durch die unternehmensspezifischen Probleme von VW nichts verändert.

Der DAX hat aber trotz guter Konjunkturindikatoren seit April scharf korrigiert.

Da muss man sich die globale Verflechtung anschauen. 80 Prozent der Umsätze der DAX-Unternehmen werden im Ausland gemacht. Die globale Konjunktur lässt ein wenig nach, primär getrieben durch die Emerging Markets. Das zeigt sich auch in den Absatzkanälen der Unternehmen. Und das spiegelt sich auf dem Aktienmarkt wider.

Wenn man das berücksichtigt, sind dann Aktien nicht noch immer zu teuer?

Überbewertet sind sie nicht. Wenn man das Shiller-KGV ansieht (Kurs-Gewinn-Verhältnis auf Basis der inflations- und zyklusbereinigten rollierenden Gewinne der vergangenen zehn Jahre), liegt der historische Durchschnitt bei 16,5. Der globale Aktienmarkt liegt bei 20, ist also leicht überbewertet. Japan, China, die Schweiz und die Philippinen sind die Märkte, die derzeit überbewertet sind. In Europa liegt das KGV mit 15,4 unter dem Durchschnitt. Die Emerging Markets liegen mit 13,9 noch weiter darunter. Die sind also nicht überbewertet.

Auch die USA nicht?

Guter Punkt, die USA sind leicht überbewertet. Aber es gibt historisch immer Zeitperioden, die mehrere Jahre dauern, in denen die Bewertung hoch ist, was nicht heißen muss, dass der Markt sich abschwächt oder rückläufig ist. Momentan haben wir so eine Phase.

Sie halten aber Europa für attraktiver?

Ja, nicht nur aufgrund der Bewertung. Auch die Konjunkturentwicklung ist noch voll im Gang. Die Peripherieländer, Italien oder Spanien, haben Nachholbedarf und sind derzeit der Wachstumstreiber Europas, während Frankreich und Deutschland ein bisschen hinterherhinken. Auch sollte weiter Kapital nach Europa fließen. Die Europäische Zentralbank (EZB) wird noch bis mindestens September nächsten Jahres laufend Anleihen kaufen, während die USA und Großbritannien die Zinsen anheben wollen. Diese Diskrepanz wirkt stützend für Europa.

Droht nicht eine Blase auf dem europäischen Aktienmarkt? Denn irgendwann wird die EZB ja wieder aufhören mit den Stützungsmaßnahmen.

Glaube ich nicht. Wenn im September 2016 Schluss mit den Anleihekäufen ist, wird es eine Zeit dauern, bis die EZB die Anleihen wieder verkauft hat, wenn überhaupt. Dass es deswegen abrupt zu einem Einbruch auf dem Aktienmarkt kommt, kann ich mir nicht vorstellen. Der Aktienmarkt ist ja auch ein Spiegel der Konjunktur. Da müsste schon eine große Krise kommen, um die Kurse deutlich nach unten zu drücken. Das sehen wir heute nicht. Und die Niedrigzinsphase wird noch lang anhalten, die Anleger suchen ja Rendite. Da sind für mich europäische Unternehmen prädestiniert. Sie haben die Bilanzen bereinigt, und die Dividendenrendite in Europa ist mit fast 3,5 Prozent die höchste weltweit. Die Unternehmen sind global aufgestellt, der günstige Euro wirkt unterstützend.

Was halten Sie von Anlegern, die sagen: Ich warte jetzt ab, bis die Korrektur vorbei ist, und steige dann ein?

Das ist der größte Fehler, den man machen kann. Wir haben untersucht, was passiert wäre, wenn ein Anleger seit den Siebzigern im DAX investiert gewesen wäre. Dann hätte er einen jährlichen Ertrag (auf Total-Return-Basis) von acht Prozent. Wenn er die besten 20 Tage versäumt hätte, wären es nur knapp zwei Prozent. Und wenn er die besten 40 Tage versäumt hätte, hätte er eine negative Wertentwicklung (minus zwei Prozent pro Jahr). Timing schafft man nicht. Die beste Strategie ist, immer stückchenweise zu investieren.

Wenn es einem Anleger aber gelingt, die 40 schlechtesten Tage auszulassen?

Das schaffen Sie nicht. Das schaffen selbst Profis nicht. Aktiv zu investieren ist ein Muss, um die schlechten Werte auszuklammern, aber Sie müssen investiert sein.

ZUR PERSON

Stefan Scheurer ist Vizechef für die globale Kapitalmarktanalyse bei Allianz Global Investors. Dort ist er seit dem Jahr 2008 tätig. Seine Finanzmarktkarriere begann er 2007 als Broker bei Cheuvreux.

Der DAX hatte im vergangenen April ein Rekordhoch von 12.390 Punkten erreicht. Seither ging es nach unten. Mit 9500 Zählern steht der Index in etwa dort, wo er vor einem Jahr war. [ Allianz ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.10.2015)

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