Russland: Eine Börse, besser als das Land

(c) Bloomberg (Alexander Zemlianichenko Jr)
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Die russische Wirtschaft hat die tiefe Rezession noch nicht überwunden. Selbst ob dies bis zum Jahresende gelingt, ist ungewiss. Aber die beiden Leitindizes haben das Ereignis schon einmal vorweggenommen. Jeder auf seine Art.

Wien. Es passte so gar nicht zusammen, was sich Anfang September an der russischen Börse getan hat. Da steckt das Land in der schwersten Wirtschaftskrise seit den Neunzigerjahren. Und gleichzeitig markierte die Börse ein Allzeithoch. Konkret kletterte der Leitindex MICEX auf 2053,75 Punkte und damit seinen historischen Höchststand. Auch der zweite Index, RTS, zeigte sich relativ stark: Erstmals seit 15 Monaten stieg er über 1000 Punkte. Das bedeutete immerhin ein Plus von 34 Prozent seit Jänner, wobei der RTS chronisch weit vom Allzeithoch (2488 Punkte) aus dem Jahr 2008 entfernt blieb.

Die Divergenz in der Performance zwischen beiden Indizes begann erst vor zwei Jahren, als der Rubel infolge des Ölpreisverfalls abstürzte und mehr als die Hälfte seines Werts verlor. Im Unterschied zu dem in Dollar denominierten RTS nämlich vereint der MICEX die Aktien russischer Firmen auf Rubelbasis. Auf Eurobasis berechnet, bewegt sich auch der MICEX gleich wie der RTS seit 2011 in einem breiten Abwärtskanal, innerhalb dessen er seit Jänner bergauf tendierte.

Hürden verlieren den Schrecken

Die jüngste positive Stimmung deckt sich jedenfalls nicht mit der makroökonomischen Lage. In Wahrheit sei die Aktienkauflaune von der Hoffnung getragen, dass die Rezession bald zu Ende geht, erklärt Vjatscheslav Smoljaninov, Chefanalyst der BCS Financial Group, im Gespräch mit der „Presse“.

Schon das zweite Jahr lang hält die Rezession Russland in Atem: 2015 ist das BIP um 3,7 Prozent geschrumpft. Im ersten Quartal 2016 um 1,2 Prozent, im zweiten um 0,6 Prozent. Noch sind Beobachter uneins, ob die Rezession bis Jahresende überwunden wird. Jedenfalls müsse man sich auf eine jahrelange Stagnation einstellen, mahnte kürzlich Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew.

Immerhin hat sich bei den Negativmomenten, die Wirtschaft und Börse lang belastet haben, ein Gewöhnungseffekt eingestellt: Die Sanktionen haben ihren Schrecken verloren. Moskaus geopolitische Verwerfungen stehen nicht im Fokus der Anleger. Und die gestrigen Parlamentswahlen bargen ohnehin kein Überraschungspotenzial.

Demgegenüber wird die anstehende Entscheidung der US-Notenbank Fed über ihre Zinspolitik auch für Russland zum Hauptereignis. Die zweite große Unbekannte bleibt der Ölpreis. Das jetzige Niveau von etwa 46 Dollar je Barrel ist weit weg von den einstigen Traumwerten, aber zumindest für Ölgesellschaften nicht kritisch. Empfindlicher sind die Verluste für den Staat. Immerhin ist zuletzt der Rubel etwas erstarkt, weil der Nettokapitalabfluss abgebremst wurde.

Die Hoffnung, dass diese Anzeichen eine baldige Erholung auch nach sich ziehen, sei im jetzigen Niveau der Leitindizes bereits eingepreist, meint Smoljaninov. Er sieht daher das Potenzial für den RTS bis Jahresende bei 980 Punkten, sprich etwa auf dem jetzigen Niveau, beschränkt. Die Rubel-Aktien der größten Ölkonzerne notieren ohnehin schon auf einem mehrjährigen Hoch, da die Produktionskosten gering sind und der schwache Rubel die Einnahmeverluste ausgabenseitig kompensiert.

Banken, Immobilien und Medien

Einzelne Sektoren gelten freilich als attraktiv. Zu ihnen zählt Smoljaninov den Immobilien- und Finanzsektor, wobei er den staatlichen Platzhirschen Sberbank neben der börsenotierten Moskauer Börse favorisiert. Ihre Arbeit an der Entwicklung des Finanzmarkts und an der Diversifizierung der Produktpalette wird an der Börse längst mit einer konsequenten Aufwärtsbewegung quittiert. Im Übrigen streicht Smoljaninov den Mediensektor mit dem Favoriten Yandex hervor, jener Suchmaschine, die im Inland weiter deutlich vor Google liegt. Auch JPMorgan hat ihren Kauf empfohlen und das Ziel des Papiers erhöht, das bei 20,5 Dollar notiert, von 26 auf 30 Dollar.

Eine satte Kurszielanhebung hat Citi dem Retailkonzern X5 verpasst – von 26,6 Dollar auf 34,3 Dollar. Auch Credit Suisse erhöhte von 22,5 auf 30 Dollar und sagt nun „Kaufen“. Das Papier, das bei 27,4 Dollar notiert, hat im vergangenen Monat um knapp 20 Prozent zugelegt und gilt als eine der attraktivsten Adressen. Die Aussichten für den Sektor aber sind durchwachsen, weil die real verfügbaren Einkommen sinken.

Nicht an den vorjährigen Hype anschließen wird vorerst die Landwirtschaft. Der Effekt der Importsubstitution ist etwas verpufft, der erstarkte Rubel verteuert den Export.

Die oben genannte Sberbank, die derzeit bei 147 Rubeln notiert, stößt übrigens bei vielen Analysten auf Sympathie. Citi, UBS, HSBC und Morgan Stanley haben das Kursziel auf den Bereich von 174 bis 185 Rubel erhöht. Sie alle bleiben bei „Kaufen“. Sberbank-Konkurrent VTB hingegen sagt „Sell“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.09.2016)

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