Wladimir Kaminer: "Ich glaube, sparen bringt Unglück"

(c) A. Walther
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Schriftsteller Wladimir Kaminer sprach mit der "Presse" über Senfbrote in Russland, sein kapitalistisches Leben in Deutschland und erklärte, warum er Buchstaben für die wahre Währung hält.

Die Presse: Herr Kaminer, Sie sind in Russland lang vor dem Fall des Eisernen Vorhangs geboren. Seit 1990 ist Deutschland Ihre Heimat. Wie gut war das Leben in der Sowjetunion?

Wladimir Kaminer: Ich bin in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der Geld keine Rolle spielte. Weil es nichts zu kaufen gab und die Menschen in der Verkaufsbranche auch gar nicht daran interessiert waren, Gewinne zu machen. Das wenige, was es gab, konnte man auch für ein gutes Lächeln, also für umsonst, bekommen. Große existenzielle Probleme, wie Hunger, hatten wir, meine Generation, nicht. Auf jedem Tisch standen Brot, Senf, Pfeffer und Salz. Und das ergab, würde ich sagen, eine durchaus tragbare Mahlzeit. In schlechten Zeiten haben wir Senfbrote gegessen.

Das heißt, man hatte sich damit abgefunden, nichts zu haben?

Irgendwie spielte Geld, zumindest in meiner Umgebung, kaum eine Rolle. Meine Eltern waren arm, aber sie waren nicht unzufrieden mit ihrer Situation. Der materielle Anspruch war ja auch begrenzt. Anders war das auf dem Land. Bei den Eltern meiner Frau gab es durchaus Möglichkeiten, Geld auszugeben. Du konntest zum Beispiel geklaute Baumaterialien kaufen, dein Haus ausbauen, deinen Garten.

Es hat Sie nicht gestört, kein Geld zu haben?

Ich war als Hippie und Anarchist darauf eingestellt, so wenig wie möglich zu haben. Anarchie ist ja die höhere Stufe der kommunistischen Entwicklung. Nach Lenins Lehre sollten am Ende der Entwicklung der Staat und das Geld abgebaut sein. Und jeder sollte alles bekommen, was er braucht, und alles geben, was er kann.

Ist das etwas, wonach Sie auch heute noch leben: so wenig wie möglich zu haben?

Nein, natürlich nicht. Ich halte es für kaum realisierbar, weil man dann jemanden benötigt, der urteilt, welche Bedürfnisse und Möglichkeit jemand hat. Was uns aber nicht davon abhalten darf, davon zu träumen. Vieles Große ist im Kleinen möglich. Man kann innerhalb einer Familie so etwas Ähnliches aufbauen.

Was heißt das für Ihre Familie?

Ich habe eine Frau, zwei Kinder, zwei Katzen und meine Mutter. Wir schauen, was jeder am besten geben kann. Meine Tochter braucht zum Beispiel vieles nicht, was ihr Bruder braucht, und umgekehrt. Aber hier im Kapitalismus führe ich auch ein kapitalistisches Leben. Ich bin ein wohlhabender Schriftsteller und Filmemacher. Trotzdem finde ich eine geldlose Gesellschaft fortschrittlicher.

Sie sind einer der wenigen Künstler, die zugeben, wohlhabend zu sein. Oft kokettieren Kreative mit Armut.

Echt? Wir reden ja über Geld. Aber ich beginne nicht jedes Gespräch mit der Ansage, wohlhabend zu sein. Ich bin ein alter Schriftsteller, habe über 20 Bücher veröffentlicht, von denen jedes ein Erfolg war. Deutschland ist ein großes Land, die Auflagen sind höher. In solchen Situationen wird man wohlhabend.

Hätten Sie sich so einen Erfolg je erträumt?

Ich habe nie daran gedacht. Ich bin kein Mensch, der große Ziele anstrebt. Ich wollte niemals irgendetwas werden. Man sagt aber, dass das eigentlich der beste Weg ist, um etwas zu erreichen. Die Fähigkeit, etwas zu können, was andere anspricht, das ist Reichtum.

Wie haben Sie sich eigentlich gefühlt, als Sie dem Reichtum des Westens ins Auge blicken konnten?

Es hat mich nicht fasziniert. Fragen Sie mich nicht, ich weiß nicht, warum. Ich habe Geschichten von Menschen gelesen, die in einem Kaufhaus ohnmächtig geworden sind, weil das Sortiment so groß war. Ich wurde nicht ohnmächtig.

Gibt es russische Eigenschaften, die Sie sich bewahrt haben?

Man darf sich nicht von Geld unterdrücken lassen. Das habe ich wahrscheinlich mitgenommen. Übersetzt in die europäische christliche Sprache soll das heißen: Gib, und dir wird gegeben! Ich bin der Meinung, dass man immer alles ausgeben muss, was man bekommt.

Und danach leben Sie?

Ja. Ich habe ja viele Helfer, die ganze Familie. Beim Ausgeben gibt es überhaupt keine Probleme.

Sie sparen also nicht?

Sie können es als Aberglaube betrachten. Aber ich glaube, sparen bringt Unglück.

Wieso das?

Weil dir dieser Prozess die Freiheit raubt und dich unfähig macht. Man zieht sein Geld und sich selbst aus dem aktiven Austausch zurück. Es ist keine logische, eher eine mystische Erklärung. Die ganzen Sparer sind Menschen, die ihr unter dem Kopfkissen gelagertes Geld verloren haben. Verdient haben nur die Mutigen, die nicht mit Spar-, sondern Investitionskonzepten agiert haben.

Man muss nicht alles, was man verdient, sparen. Das macht ohnehin niemand.

Die Menschen sind alle sterblich, leben aber so, als wüssten sie das nicht. Dann sind sie weg, und ihr ganzes Erspartes liegt irgendwo. Das ist ekelhaft. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Meine Mutter ist 83 Jahre alt und hat eine Schwester in Moskau. Meine Mutter hat sie über all die Jahre finanziell unterstützt. Meine Tante hat das Geld gespart und wahrscheinlich vergessen. Im Vorjahr erzählte mir meine Mutter, dass ihre Schwester sie nach einer Möglichkeit gefragt hat, 5000 D-Mark einzutauschen.

Haben Sie keine Sorgen, dass Ihre Familie nicht ausreichend versorgt ist?

Das ist sicher ein ernsthaftes Problem, aber nicht die Rente ist das Entscheidende, sondern die Fähigkeit und die Lust zu leben. Ich handle mit einem sehr wertvollen Stoff, mit Geschichten. Nicht das Geld bleibt nach den Menschen, sondern ihre Erzählungen. Das ist letzten Endes das Konzept der Unsterblichkeit. Das Einzige, was wir von unseren Vorfahren wissen, kam in Form von Buchstaben und Bildern zu uns. Das ist die wahre Währung.

Sie schreiben auf Deutsch. Warum haben Sie sich gegen Ihre Muttersprache entschieden?

Weil in Deutschland niemand Russisch versteht. Außerdem spielt Literatur eine ganz andere Rolle in Russland. Sie ist Politik oder ein Ersatz dafür. Hier hat Literatur eine ganz andere Geschichte. Ich empfinde mich nicht als deutscher, vielmehr als europäischer Schriftsteller. Um eine Tragödie lustig schreiben zu können, braucht man außerdem Abstand.

Wie stehen Sie heute zu Russland?

Als das Land sich noch auf dem Weg der europäischen Annäherung befand, kamen viele Journalisten aus Russland auf mich zu. Nach dem Motto: Unser Mann im Ausland hat so viel erreicht. Das betraf nicht nur mich, auch andere. Heute bin ich ein scharfer Kritiker. Jetzt bin ich wahrscheinlich ein Heimatverräter.

Sind Sie froh, nicht mehr dort zu leben?

Ich wäre so oder so weggefahren. Ich finde es nicht gut, wenn man dort lebt, wo man geboren ist.

Warum nicht?

Das gehört zum Erwachsenwerden. Heimat ist lieb, das ist Mama. Du liebst deine Mutter nicht für ihre Eigenschaften, sondern weil sie deine Mutter ist. Wenn ich als 48-Jähriger bei meiner Mutter wohnen würde, würde man denken, da stimmt was nicht.

Aber Sie haben Ihre Mutter nach Deutschland geholt.

Sie ist ein Jahr später von allein gekommen.

ZUR PERSON

Wladimir Kaminer (*1967) stammt aus Moskau und versuchte 1990 sein Glück in der DDR – wenige Monate vor ihrem Untergang. Der Schriftsteller lebt mit seiner Familie in Berlin. Mit dem Verkauf mehrerer Millionen Bücher gilt er als einer der erfolgreichsten deutschen Autoren. Zu seinen bekanntesten Werken zählt „Russendisko“, das auch verfilmt wurde. Erst vor wenigen Tagen erschien sein neuestes Buch „Das Leben ist keine Kunst: Geschichten von Künstlerpech und Lebenskünstlern“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.09.2015)

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