Diakonie-Chef Chalupka: "Geld ist ein notwendiges Übel"

Michael Chalupka
Michael Chalupka(c) Clemens Fabry
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Michael Chalupka erzählt von freiwilliger und unfreiwilliger Armut und Pariser Obdachlosen, die als Kellner arbeiten. Dass sich Menschen in die soziale Hängematte legen wollen, glaubt er nicht.

Die Presse: Als Diakonie-Direktor haben Sie viel mit Leuten zu tun, die kein Geld haben. Was bedeutet Geld für diese Menschen?

Michael Chalupka: Geld ist ein Mittel, damit Menschen an der Gesellschaft vollumfänglich teilhaben können. Ohne Geld kann man an vielem nicht teilhaben. Das betrifft etwa Menschen mit Behinderung, weil die technischen Hilfsmittel für die Teilhabe so teuer sind. Ein Sprachcomputer, der mit Blicksteuerung funktioniert – für Menschen, die bewegungs- und sprechunfähig sind – kostet 21.000 Euro.

Das wird nicht gefördert?

Wir bemühen uns schon ewig, dass solche Geräte auf den Hilfsmittelkatalog der Sozialversicherung kommen. Der ist sehr antiquiert. Also beginnt der Hürdenlauf. Man schreibt an Licht ins Dunkel, an den Fonds des Verbunds, man schreibt an fünf, sechs Stellen, und am Ende fehlen vielleicht noch immer 3000 Euro. Gerade bei Familien mit einem Kind mit Behinderung ist das Geld knapp. Die Teilhabe wird so nicht erleichtert. Auch Bezieher von Mindestsicherung können oft nicht vollumfänglich an der Gesellschaft teilnehmen, etwa am kulturellen Leben.

Ist die Teilhabe im Vergleich zu früher teurer geworden?

Es gibt immer weniger Orte – auch für Jugendliche –, an denen man sich treffen kann, die nichts kosten. Ich bin in der Evangelischen Jugend aufgewachsen, das waren Räume, die kostenlos angeboten wurden. Das wird aber weniger, und es wird auch weniger angenommen.

Warum?

Weil es mehr Angebot gibt, das Geld kostet. Früher war man bei der Jungschar oder bei den Roten Falken. Jetzt gibt es viele Angebote, die nur über Geld zugänglich sind. Die Frage ist: Wollen wir in einer Gesellschaft leben, an der möglichst alle teilhaben, oder finden wir, es kann ruhig auch Teile geben, die nicht teilhaben: Ausländer, Leute, die die Mindestsicherung beziehen. Zu denen sagt man: „Es ist schon gut, dass ihr ein bisschen draußen seid, dann müsst ihr euch mehr anstrengen.“ Gerade die, die rasche Integration fordern, wollen jetzt größeren Familien oder Asylwerbern die Mindestsicherung kürzen. Wenn ich den Menschen aber nicht genug zum Überleben lasse, behindere ich die Integration.

Es gibt auch das Argument, dass unser Sozialsystem nicht zu attraktiv sein soll für Leute, die von außen kommen.

Es ist empirisch nicht richtig, dass die Leute wegen des Sozialsystems in ein bestimmtes Land kommen. Da geht es darum, ob es eine Community gibt und ob man Chancen hat, eine Arbeit zu finden. Dass Menschen nur nach Österreich kommen, weil sie in der sozialen Hängematte liegen wollen, dieses Menschenbild habe ich nicht. Ich glaube, der Mensch ist dazu geboren, etwas aus seinem Leben zu machen. Warum sollte ein Flüchtling, der tausende Kilometer gegangen ist und unter widrigsten Umständen sein Leben organisiert hat, auf einmal zufrieden sein mit der sozialen Hängematte?

Weil er sieht, dass er auf dem Arbeitsmarkt schlechte Chancen hat und die Mindestsicherung doch mehr ist, als er daheim hat?

Wenn ich sage: Du bekommst nicht genug Geld, um deine Familie zu ernähren – bekommt er dann einen Arbeitsplatz, wenn es keinen für ihn gibt? Ich will nicht, dass Menschen so schlecht gestellt werden, dass sie keine Chance auf Teilhabe haben. Ich habe vor ein paar Jahren als freiwilliger Helfer in einer Pariser Obdachloseneinrichtung mitgearbeitet. Da sind in der Früh Menschen gekommen, haben sich gewaschen, umgezogen und sind arbeiten gegangen. Das sind die, die mit gebügelten weißen Hemden auf Modeschauen Champagner servieren. Aber was sie dort verdienen, damit können sie sich in Paris keine Wohnmöglichkeit leisten.

Wo haben sie übernachtet?

Ein junges Paar hat mir gezeigt, wo sie übernachten: in einem Autowrack in einer Tiefgarage. Ich bin immer erstaunt, wie sich Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, da dreinfinden. Aber das will ich nicht in Österreich.

Waren Sie selbst irgendwann von Armut betroffen?

Ich habe als Student von wenig Geld gelebt und war dann drei Jahre lang Volontär in einer Einrichtung der Waldenserkirche. Dort habe ich nur Taschengeld bekommen, war aber nicht von der Teilhabe ausgeschlossen. Das ist eine Kommunität, die in freiwilliger Armut lebt, wo aber allen alles gehört. Ich habe geschlafen und gegessen, und das Taschengeld war ein Zubrot, mit dem ich ins Kino gehen konnte. Es ist ein Riesenunterschied, ob ich freiwillig in Armut lebe oder dazu gezwungen werde, in Armut zu leben.

Nimmt einem das die Existenzangst, wenn man sieht, es geht auch mit wenig?

Nein, das hängt genau mit dieser Freiwilligkeit zusammen. Meine Eltern haben erlebt, was es heißt, nicht freiwillig arm zu sein. Mein Vater kam aus Jugoslawien nach dem Krieg aus einer bitterarmen Familie, meine Mutter aus einer Familie mit neun Kindern. Welche Existenzängste man da hat, kann man sich nur schwer vorstellen, wenn man es nicht erlebt hat. Das kann ich mir auch persönlich kaum vorstellen. Ich merke außerdem, dass Geld eine große Rolle spielt für Leute mit Demenz. Sie haben Ängste, dass ihnen das Geld weggenommen wird, weil es ein Zugang zur Welt ist, den man selbst gestalten kann. Wenn einem dieser Zugang genommen wird, empfindet man das als sehr schlimm. Ich glaube aber umgekehrt, dass man die Grenze schnell erreicht, an der man mit Geld sein Glück noch steigern kann – mit einem guten Durchschnittseinkommen, wenn man im Supermarkt nicht nachdenken muss, kaufe ich dieses Joghurt oder das andere, das um 50 Cent billiger ist.

Merken Sie das an sich selbst?

Ich habe weder ein Vermögen noch ein Riesengehalt, aber ich wüsste nicht, wie mich mehr Geld glücklicher machen könnte. Soziale Sicherheit bedeutet, dass einem nichts unbedingt verwehrt ist. Niemand leidet darunter, dass er einen Fiat und keinen Maserati hat. Wenn ich aber im Waldviertel lebe, wo kein Bus geht, und mir keinen Fiat leisten kann, leide ich darunter. Um seine Potenziale ausschöpfen zu können, ist das Geld ganz wichtig. Weiter oben hat es eine andere Qualität. Es steigert nicht das Glück, aber es kann auch schön sein, sich einen Maserati zu leisten.

Ist Reichtum ab einer gewissen Höhe unmoralisch?

Wenn man gar kein Geld hat, ist es viel schwieriger, sein Leben nach moralisch-ethischen Grundsätzen zu leben. Ob es auch schwieriger ist, wenn man sehr viel Geld hat – das glaube ich nicht. Das sind individuelle Entscheidungen. Mir sind Rahmenbedingungen, wie sie die soziale Marktwirtschaft in Österreich bietet, lieber: dass Menschen von dem, was sie erwirtschaftet haben, und von ihrem Reichtum der Gesellschaft systematisch etwas zur Verfügung stellen. Das ist mir lieber als das amerikanische Modell. Nicht, weil die Menschen dort weniger geben würden. Diese Superreichen geben ja sehr viel. Nur möchte ich, dass solche Dinge demokratisch entschieden werden. Ich möchte es nicht allein Bill Gates überlassen, ob er Malaria bekämpft oder Aids-Medikamente billiger macht.

Aber könnte man Bill Gates nicht schneller als eine Behörde dazu bewegen, einen Sprachcomputer zur Verfügung zu stellen?

Das stimmt. Dafür fehlt das Geld dann woanders. Es gibt da zwei Pole: In der Bibel heißt es, dass man sich zwischen Gott und dem Mammon entscheiden muss. Es heißt aber auch: „Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon.“ Geld ist ein notwendiges Übel, damit Menschen sich austauschen können. Wo es aber an die Stelle von demokratisch legitimierter Macht tritt, da hat es eine gefährliche Dimension.

ZUR PERSON

Michael Chalupka (*1960) ist Direktor der Diakonie Österreich, einer der fünf größten Wohlfahrtsorganisationen Österreichs, und evangelischer Pfarrer. 1995 war er Mitinitiator der Armutskonferenz, eines Netzwerks sozialer Organisationen, das die Ursachen von Armut und Möglichkeiten zu deren Bekämpfung erforscht. Seit 2000 ist er Präsident des Österreichischen Komitees für Soziale Arbeit (Öksa), seit 2006 Chef des Evangelischen Schulwerkes A. B. Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.07.2016)

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