Als ein Protest im Herzen Chinas zu einem Massaker führte

RETRO-TIANANMEN-STUDENT-HU YAOBANG
RETRO-TIANANMEN-STUDENT-HU YAOBANG(c) EPA (Catherine Henriette)
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Bis zum Beginn des Aufstands auf dem Tian'anmen-Platz vor 25 Jahren galt Staatschef Deng Xiaoping als großer Hoffnungsträger, der China öffnen werde. Das Gegenteil war der Fall.

Der traditionellen chinesischen Astrologie entsprechend wird jedes Jahr einem von zwölf Tieren zugeordnet. Dem Jahr werden dann die Charaktereigenschaften zugeschrieben, die auf das jeweilige Tier zutreffen. Das Jahr der Schlange etwa ist für unvorhergesehene Gefahren bekannt. Zwar ist die Schlange nach außen hin ein bedächtiges und wohlüberlegtes Wesen, das nur dann zuschnappt, wenn es den richtigen Moment erkennt. Zugleich gilt sie als undurchsichtig und unberechenbar. Weil Schlangenjahre auch als Jahre der Häutungen gelten, bringen sie in der Regel große Veränderungen mit sich. Die chinesischen Astrologen sollten in dieser Hinsicht auch 1989 recht behalten.

In der Öffentlichkeit trat Hu Yaobang nach seiner Absetzung als Generalsekretär Anfang 1987 durch Staatschef Deng Xiaoping nur noch selten auf. In den Augen der chinesischen Intellektuellen und großer Teile der Bevölkerung blieb er aber ein Held. Als langjähriger Generalsekretär der Kommunistischen Jugendliga waren ihm die Nöte der jungen Leute stets ein Anliegen geblieben.

Die Gelehrten waren ihm dankbar dafür, dass er das Ende der Kulturrevolution mit eingeleitet hatte und maßgeblich am Wiederaufbau des universitären Lehrbetriebs beteiligt gewesen war. Er hatte die Intellektuellen dazu ermutigt, sich kritisch mit den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen auseinanderzusetzen. Umso schockierter waren sie, als am frühen Morgen des 15. April 1989 Nachrichtensprecher in Radio und TV das laufende Programm unterbrachen und seinen Tod verkündeten. Er sei im Alter von 73 Jahren einem Herzinfarkt erlegen.

Wenige Stunden danach hingen auf dem Gelände der großen Pekinger Universitäten bereits die ersten Transparente und Banner mit Trauerbekundungen für Hu aus den Fenstern. „Wir sind traurig“, stand auf ihnen geschrieben. Oder: „Unser großer Hoffnungsträger ist von uns gegangen.“ Gerade weil die KP-Spitze mit der „Kampagne gegen die bürgerliche Liberalisierung“ die Zügel 1987 wieder angezogen hatte und versuchte, öffentliche Kundgebungen und Versammlungen an den Universitäten zu unterbinden, blieb die politische Verdrossenheit unter Chinas Intellektuellen groß.

Wie elf Jahre zuvor, als Hunderttausende nach dem Tod von Zhou Enlai schon einmal auf den Tian'anmen-Platz strömten und ihre Trauer zum Anlass nahmen, um gegen die damalige Führung zu protestieren, wollten die Pekinger Hochschullehrer und Studenten nun die Gedenkfeiern für Hu nutzen, ihren Unmut auf die Straße zu tragen. Zu einem ihrer zentralen Protagonisten stieg in diesen Tagen der uigurischstämmige Student Wu'er Kaixi der Pädagogik-Hochschule auf. Zusammen mit anderen Studenten gründete er den Autonomen Studentenverband, zu dessen Sprecher er wurde.

Studenten suchten Verbündete. Wu'er Kaixi und seine Kommilitonen hatten von den Protesten zwei Jahre zuvor dazugelernt: Um glaubwürdiger und schlagkräftiger zu sein, brauchten sie die Unterstützung der Bevölkerung. Sie beklagten sich auch nicht mehr nur über die schlechten Bedingungen an den Universitäten, sondern forderten nun lautstark Demokratie und Freiheit für alle. Sie wünschten sich die Kommunistische Partei weniger autoritär, dafür humaner, mit aufrechten Führern, die sich der Allgemeinheit verpflichtet fühlen und nicht persönlichen Privilegien.

Damit nahm am 18. April seinen Lauf, was anderthalb Monate später auf das Massaker hinauslaufen sollte. Einige hundert Studenten zogen nachmittags auf den Tian'anmen-Platz und verlasen vor der Großen Halle des Volkes eine Erklärung, die an das Zentralkomitee gerichtet war. Darin forderten sie neben Demokratie und mehr politischer Mitbestimmung auch eine nachträgliche Rehabilitierung der Proteste von 1986, das Ende der „Kampagne gegen die bürgerliche Liberalisierung“ und eine Veröffentlichung der Einkommen der Parteiführer und deren Kinder.

Kurz vor Mitternacht zogen Demonstranten einige paar hundert Meter weiter zum Xinhua-Tor und verlangten Eintritt ins Regierungsviertel. Trotz mehrfacher Aufforderungen, den Eingangsbereich zu verlassen, gelang es ihnen, bis vier Uhr morgens vor dem Tor auszuharren. Es war das erste Mal seit der Gründung der Volksrepublik, dass Demonstranten so nah ans Zentrum der Macht gelangten.

Die offizielle Trauerfeier für Hu war für den 22. April vorgesehen. Bereits im Morgengrauen versammelten sich vor den Eingängen der großen Pekinger Universitäten im Nordwesten der Stadt zehntausende Studenten, um im Fahrradkonvoi zum fast zwanzig Kilometer entfernten Tian'anmen-Platz zu fahren. Da Deng einst nachträglich die Trauermärsche für Zhou Enlai von 1976 zu legitimen Protesten erklärt hatte, wollte er die Trauerbekundungen für Hu Yaobang zulassen, in der Hoffnung, dass sich der Protest nach den Feierlichkeiten wieder legen würde. Außerdem wollte er Hus Leistungen nicht in Abrede stellen. Die Reden auf der offiziellen Trauerfeier der KP-Spitze in der Großen Halle des Volkes wurden daher per Lautsprecher auf den Platz übertragen. Bis Mittag hatten sich über 200.000 Menschen versammelt, um der Trauerfeier beizuwohnen. Auch das chinesische Staatsfernsehen übertrug die Zeremonie live. Während Zhao Ziyang einen langen, langen Nachruf vorlas, der ersichtlich im Konsens mit der Parteiführung formuliert war und nur wenige persönliche Passagen enthielt, wurden die Menschen auf dem Platz immer ungeduldiger. Hus Amtsentfernung von 1987 wurde mit keiner Silbe erwähnt. Im chinesischen Staatsfernsehen war Deng zu sehen, wie er mit gefalteten Händen grimmig nach vorn starrte.

Nach der Feier wurde Hu in einer Kolonne schwarzer Limousinen zum Friedhof der Parteiführer im Westen der Stadt gefahren. Die Feier wurde offiziell für beendet erklärt. Doch auf dem Tian'anmen-Platz wollten sich die Massen damit nicht zufriedengeben. Immer lauter wurden ihre Rufe. Die Menschen skandierten „Dialog, Dialog“ und forderten eine öffentliche Unterredung mit Li Peng. Als keine Reaktion erfolgte, stiegen drei Studenten die Stufen vor der Großen Halle empor und knieten nieder. Drei Stunden verharrten sie in dieser Pose. Wu'er Kaixi erklärte später, dass der Kniefall im alten China keineswegs ein Eingeständnis des Scheiterns ausdrückte. Früher hätten Beamte vor dem Kaiser niedergekniet, um eine Petition einzureichen. Der Kniefall drücke also auch aus, dass der Bittsteller eine gewisse Hoffnung zum Ausdruck bringt, erhört zu werden.Li ließ sie jedoch warten und lehnte ein Gespräch ab mit der Begründung, die drei seien als Studentenvertreter gar nicht legitimiert. Später behauptete er, er habe von dieser Aufforderung nichts gewusst.

Bis zum Zeitpunkt der Trauerfeier nahm Deng Xiaoping den Protest der Studenten nicht sehr ernst. Aus der Erfahrung von 1976 wusste er, dass Einschränkungen solche Kundgebungen eher eskalieren lassen. Doch als die Studenten auch nach der offiziellen Trauerfeier an ihren Protesten festhielten, sah er den Moment gekommen, den Demonstranten eine deutliche Warnung zu geben.

zum Autor

Buch von „Presse“-Korrespondent Felix Lee: „Macht und Moderne. Chinas großer Reformer. Deng Xiaoping. Die Biographie.“ Berlin, März 2014, Rotbuch Verlag, 304 Seiten, 24,95 Euro.

TIAN'ANMEN- MASSAKER

Im April vor 25 Jahren begannen auf dem Tian'anmen-Platz in Peking die größten Studentenproteste seit Gründung der Volksrepublik.

Anlass war der plötzliche Tod des Reformers Hu Yaobang. Den Studenten schlossen sich Arbeiter, Beamte und Bauern an. Sie forderten politische Reformen.

Staatschef
Deng Xiaoping ließ in der Nacht auf den 4. Juni 1989 Panzer auffahren und schlug die Demokratiebewegung nieder. Die Regierung sprach von 241 Toten, darunter 36 Studenten. Menschenrechtsorganisationen berichteten aber von bis zu mehreren tausend Toten.

Bis heute ist es in China ein Tabu, über die Vorgänge auf dem Tian'anmen zu reden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2014)

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