Skeptizismus allein macht noch keinen mündigen Bürger

Skeptizismus allein macht noch keinen mündigen Bürger. Über Impfgegner, »Lügenpresse«-Rufer und die Vertrauenskrise.

Früher war es einfach. Früher ging man zum Kinderarzt. Der würde einem schon mitteilen, was zu tun ist, welches Medikament, welche Behandlung, welche Impfung. Was er sagte, war Gesetz – und wenn er meinte, der Säugling soll nur alle vier Stunden „angelegt“ werden, dann hielten sich die Mütter daran.

Doch zu oft haben sie sich getäuscht, die Ärzte, so oft haben wir davon gelesen: Contergan haben sie den werdenden Müttern verordnet, das sei ein sanftes Beruhigungsmittel, sagten sie. Hormone haben sie verschrieben als seien es Beautypillen, und erst nach dem riesigen ungenehmigten Feldversuch an Millionen von Frauen mussten sie zugeben: Sie steigern die Brustkrebsrate.

Ihre Autorität ist also geschwunden.

Das ist gut. Einerseits. Aber Skeptizismus allein macht noch keinen mündigen Bürger. Wer alles infrage stellt, ist verpflichtet, sich selbst die Antworten zu suchen. Das ist mühsam. Und aufwendig. Stattdessen werfen sich immer mehr Menschen anderen Autoritäten an den Hals. Sie glauben zwar den Pharmafirmen nicht (Geschäftemacherei!), aber impfgegnerischen Naturheilkundlern, die teuer Heilung versprechen. Sie stellen die Wissenschaft infrage (gekauft!), aber nicht jene Autoren, die Bücher mit der These verkaufen, die Pocken seien durch „Quarantäne“ ausgerottet worden. Von den Medien, die Grafiken über die Gefahren der Masern drucken, fühlen sie sich verraten („Lügenpresse“). Aber auf obskure Seiten, die auf noch obskurere Seiten verweisen, die leicht nachweisbar Lügen verbreiten, verlassen sie sich blind. Es ist paradox: Mittlerweile muss man, wenn sich jemand „kritisch“ nennt, aufs Schlimmste gefasst sein.

Widersprüche? Wer wahrhaft kritisch ist, müsste hinschauen: Etwa wenn Impfgegner wie Andrew Wakefield eine Studie vorstellen, die angeblich einen Zusammenhang zwischen Impfung und Autismus beweist – und sich dann herausstellt, dass diese Studie nicht nur fehlerhaft ist, sondern ausgerechnet von jenen Anwälten bezahlt wurde, die sie für eine Klage gegen einen Impfstoffhersteller brauchten. Wer kritisch ist, würde sich nicht an vermeintlichen Widersprüchen („Warum ist die Pest nicht ausgerottet, wenn Impfen so toll ist?“) festbeißen, sondern kurz nachrecherchieren: Dann könnte er sehen, dass die Impfung gegen die Pest alle sechs Monate aufgefrischt werden muss.

Man sollte jenen nicht trauen, die prinzipiell keine Fehler zugeben und keine Zweifel kennen. Zur Erinnerung: Es waren Ärzte, die die verheerende Wirkung von Contergan auf den Fötus entdeckten, es waren Wissenschaftler, die nach Studien zur Hormonersatztherapie in den Wechseljahren zur Vorsicht mahnten.

Ich warte auf den Tag, an dem auch Impfgegner dazulernen.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.03.2015)

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