An der Grenze: "Diese Menschen tun einem einfach nur leid"

(c) REUTERS (BERNADETT SZABO)
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Zehntausende Flüchtlinge gelangten allein heuer über Serbien nach Ungarn und somit in die EU. Ungarns Regierung setzt auf Härte. Doch Bewohner der Grenzorte zeigen Verständnis für diese Menschen, die oft aus Syrien fliehen.

Sie wollen nachts, im Schutz der Dunkelheit, aufbrechen, um durch das dicht bewaldete Überschwemmungsgebiet der Theiß nach Ungarn zu gelangen. Aus etwa 30 Flüchtlingen besteht die Gruppe im Park des serbischen Grenzstädtchens Kanjiža. Männer, Frauen, auch ältere Menschen sind dabei. Ahmed, 23, will „unbedingt“ nach Deutschland. Der Jura-Student aus Damaskus ist seit drei Monaten unterwegs.

5000 Euro habe er bereits ausgegeben. Stolz zeigt er ein Bündel Euro-Noten, das er aus der Innentasche seiner Jacke hervorgezogen hat. „Ich habe noch genug für die Weiterreise“, sagt er. Was er in Deutschland anfangen wolle? Das wisse er nicht, aber er werde so lang nicht aufgeben, bis er „ankommt“.

Um die Migranten abzuhalten, will Ungarns Premier, Viktor Orbán, einen vier Meter hohen Stacheldrahtzaun entlang der 175 Kilometer langen Grenze zu Serbien errichten. Die Flüchtlinge wollen die Grenze ins EU-Land Ungarn überqueren, noch ehe der Zaun aufgebaut wird. Viele Flüchtlinge, insbesondere Syrer, Afghanen und Pakistani, sind aus der Türkei über Griechenland und den Balkan nach Serbien gelangt. Mit dem Zug, mit Bussen, ja sogar mit Taxis kommen sie aus Belgrad zur ungarischen Grenze.

„Viele haben eine Menge Geld bei sich“, sagt in Kanjiža Esther, die mit ihren Kindern in den Park gekommen ist. Ob sie die Fremden stören? „Ach was! Ich sehe sie jeden Tag, sie sind ungefährlich“, sagt sie. Die meisten seien Jugendliche und Studenten mit gepflegtem Äußeren und guten Manieren. Laut Esther regen sich vor allem die älteren Bewohner über die wachsende Flüchtlingszahl in der Stadt auf. Viele hätten Angst.

Mittelschullehrer Samir erzählt indes, dass er im Zuge der Flucht mit seiner schwer kranken Frau, Ayasha, bisher 10.000 Dollar ausgegeben habe. Sie wollten so rasch als möglich nach Deutschland oder Schweden gelangen, um Ayasha ins Krankenhaus zu einer „lebensnotwendigen Operation“ bringen zu können. Der abgemagerten Frau stehen die Strapazen der Flucht tief ins Gesicht geschrieben, in ihren eingefallenen Augen spiegelt sich Resignation wider. Ebenso wie Ahmed wollen auch Samir und Ayasha nicht fotografiert werden.

„Durstig und hungrig“

Auf der anderen Seite der Grenze, im beschaulichen Röszke, steht Sándor vor der örtlichen Kneipe. Sein Blick schweift in die Ferne. Dort, hinter dem Dorf an einem toten Arm der Theiß, habe eine junge Flüchtlingsfrau „aus einem arabischen Land“ ein Kind zur Welt gebracht. Eine andere Frau habe ihrem Säugling unlängst in der Kneipe auf der Kühltruhe die Windel gewechselt. „Diese Menschen tun einem einfach leid“, sagt Sándor.

Drinnen in der Kneipe steht die Eigentümerin Katika hinter der Theke. Sie berichtet, dass dieser Tage viele Flüchtlinge durstig und hungrig bei ihr einkehren würden. Es seien „Araber, Weiße und Neger“ unter ihnen. Alle würden sie mit Euro bezahlen und „keine Probleme machen“. Einige „alte Schachteln“ im Ort machten sich allerdings „einen Sport daraus“, Flüchtlinge bei Polizei oder Bürgerwehr zu melden.

In Röszke und seiner Umgebung patrouilliert die Polizei mit Kleinbussen rund um die Uhr. Die Ordnungshüter durchkämmen sogar mit berittenen Einsatzkräften und auf Mountainbikes die staubigen Gassen und Felder rings um die Ortschaft. Hoch oben in der Luft durchbricht immer wieder das Knattern von Polizeihubschraubern die Stille. Werden Flüchtlinge aufgegriffen, transportiert man sie zu einem kleinen Lager am Rand von Röszke. Binnen 24 Stunden werden sie von dort in Flüchtlingslager in Kiskunhalas (Südungarn), Bicske (Zentralungarn) und Debrecen (Ostungarn) weitergekarrt.

Zum Tageslager, das aus einem Hangar und einigen Großzelten besteht, gibt es für Medien keinen Einlass. Der junge Polizist am Tor macht darauf aufmerksam, dass Flüchtlinge alle vier Stunden etwas zu essen kriegen würden. „Nur Hühnerfleisch für die Araber, weil diese kein Schweinefleisch essen.“ Sogar für die Kleinsten gebe es Babynahrung und Windeln. „Da soll noch jemand im Westen sagen, dass wir in Ungarn Flüchtlinge schlecht behandeln!”, betont er.

„Eine Völkerwanderung“

Im Lager tummeln sich vor allem Menschen arabischer Herkunft und Schwarzafrikaner. Sie sitzen in großen Gruppen beisammen und scheinen auf ihren Abtransport mit Bussen zu warten. Eine völlig geschwächte Frau wird im Rollstuhl zur medizinischen Behandlung geschoben, ein kleines Kind krabbelt über seinen schlafenden Vater.

„Die Flüchtlinge kosten uns zu viel Geld. Und sie werden mehr und mehr”, sagt der Polizist. Deshalb sollten sie nach Griechenland zurückgeschickt werden, dort, wo sie den EU-Raum betreten hätten. Seine Meinung stimmt frappant mit jener der Regierung überein.

Premier Viktor Orbán sprach ja jüngst davon, „dass wir es in Europa heute nicht mehr mit einer Flüchtlingsflut, sondern einer Völkerwanderung zu tun haben“. Laut Orbán kann sich Ungarn der zahllosen Flüchtlinge nicht mehr erwehren. Deshalb werde der Grenzzaun zu Serbien errichtet und „wenn es sein muss auch an anderen Grenzabschnitten des Landes“. Geplant ist zudem eine Volksbefragung, um Einwanderungsgesetze zu verschärfen. Und deshalb wurde unlängst auch eine von den Kritikern als „plump und primitiv“ bezeichnete Plakatkampagne gestartet, bei der Einwanderer in ungarischer Sprache und in Du-Form aufgefordert werden, Gesetze einzuhalten und Ungarn ihre Arbeit nicht wegzunehmen.

Orbán beruft sich auf die explodierenden Flüchtlingszahlen. Heuer haben bereits mehr als 60.000 illegale Migranten die Grenze nach Ungarn passiert. 2012 waren es über das gesamte Jahr gesehen nur 2000.

Kinderschuh und eine Puppe

Wenige Kilometer von Röszke entfernt liegt Gyálarét, ein Vorort der ungarischen Grenzstadt Szeged. Auch hier durchstöbert die Polizei mit einem Großaufgebot die Umgebung, vor allem den Wald im Überschwemmungsgebiet der Theiß hinter dem Damm. Hier sind die Spuren der Flüchtlinge deutlich sichtbar. Überall liegen Gewand, Rucksäcke und Taschen herum, die wohl in der Hast zurückgelassen wurden. Inmitten der Habseligkeiten stechen auch eine kleine Puppe, ein Kinderschuh, ein Sack mit verdorbenem Brot, griechische Telefonkarten und in Belgrad ausgestellte Asylantragsformulare für zwei Minderjährige aus Aleppo ins Auge.

Auf dem Damm radelt eine ungarische Frau aus Gyálarét mit vier Kindern. Sie durchstöbern die von den Flüchtlingen hinterlassenen Habseligkeiten, offenbar auf der Suche nach Brauchbarem. Die rothaarige Frau ist aufgebracht, sie hat Angst um ihre Kinder. „Die Flüchtlinge tun uns ja leid”, sagt sie, „aber ihre Haut ist so dunkel, da weiß man ja nie.” Was sie am meisten stört: „Überall trifft man sie.”

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.07.2015)

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