Nürnberg 1945: Die NS-Führung sitzt in Haft

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In wenigen Wochen wird der spektakulärste Strafprozess der Weltgeschichte starten. 23 Deutsche sind der schauerlichsten Kriegsverbrechen angeklagt. Bormann ist unauffindbar.

Nürnberg in Mittelfranken, im September 1945: Der Justizpalast in der Fürther Straße 110 ist vom alliierten Bombenhagel der letzten Kriegstage so gut wie unversehrt stehen geblieben. Auch das Gefängnis. Hier wird sich in wenigen Wochen Weltgeschichte abspielen.

In mehreren Transporten haben die alliierten Sieger die überlebenden Führungspersonen des Deutschen Reichs, das im Mai kapituliert hatte, hergebracht. Hier, in der Stadt der alljährlichen Reichsparteitage der NSDAP, soll ihnen ein Weltgericht den Prozess machen. Hier warten nun 22 Männer auf ihren Prozess. Da sich Adolf Hitler, Joseph Goebbels und Heinrich Himmler der irdischen Gerechtigkeit durch Selbstmord entziehen konnten, gilt nun der einstige Reichsmarschall Hermann Göring als die „Nummer eins“ unter den Häftlingen. Einst Präsident des völlig bedeutungslosen Reichstags, Treuhänder des Vierjahresplans, Reichsluftfahrtminister und bis zum April designierter Nachfolger Hitlers, bevor ihn dieser wegen angeblichen Verrats aus allen Ämtern entfernte, regeneriert er sich in der Haft erstaunlich schnell von seiner Drogensucht.

Himmler schluckte Zyankali

Alle hat man im Mai und Juni nach und nach fangen können, einige hatten sich den britischen und US-Soldaten gestellt, der machtlose „Stellvertreter des Führers“, Rudolf Hess, den die Briten 1941 auf ihrer Insel inhaftiert hatten, wurde ebenfalls nach Nürnberg expediert.

Den gefürchteten „Reichsführer SS“, Heinrich Himmler, hätten die Alliierten gern auch auf der Anklagebank gesehen. Vergeblich. Am 21. Mai verhafteten britische Soldaten südlich von Lüneburg einen verdächtigen Landstreicher, angeblich Angehöriger der Geheimen Feldpolizei, namens Heinrich Hitzinger.

Nach 24 Stunden stellte sich heraus: Der „Hitzinger“ war Heinrich Himmler. Doch bei der Einvernahme in Lüneburg und der Leibesvisitation biss Himmler auf die in einer Zahnlücke verborgene Giftkapsel und die Finger des Arztes. Himmler fiel zu Boden und jemand rief: „Der Scheißkerl beißt uns!“ Der Geruch von Blausäure verbreitete sich im Raum. Dann Stille. So endete die Jagd nach dem grausamsten Schreibtischmörder.

In Nürnberg wurde inzwischen der spektakulärste Strafprozess des 20.Jahrhunderts vorbereitet. Ein umstrittenes Unterfangen, weil nur die Verlierer der ungeheuerlichsten Kriegsverbrechen angeklagt wurden. Das „Tribunal der Sieger“ (© Werner Maser) stellte keinerlei Fragen nach den Verbrechen gegen die deutsche Zivilbevölkerung durch das alliierte Flächenbombardement oder nach der Rechtmäßigkeit der Stalin'schen Diktatur. Im Gegenteil, jeder kleinste Hinweis der Verteidigung darauf war von Anfang an verboten.

Der Prozess nach angelsächsischem Recht stellte auch in organisatorischer Hinsicht alles bisher Dagewesene in den Schatten. Der Prozessverlauf sollte gefilmt, jedes Wort auf Tonband aufgezeichnet werden. Und das in Simultanübersetzung (Englisch, Französisch, Russisch und Deutsch). Die Anklage umfasste 25.000 Wörter und betraf vier Punkte:

1. Verschwörung;

2. Verbrechen gegen den Frieden: nämlich Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Führung eines Angriffskrieges [. . .];

3. Kriegsverbrechen, also Verletzungen der Kriegsgesetze [. . .];

4. Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Ermordung, Ausrottung, Versklavung, Verschleppung; Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen [. . .].

Die Angeklagten:

Hermann Göring, Rudolf Hess: Stellvertreter des Führers, Joachim von Ribbentrop: Reichsaußenminister, Robert Ley: Führer der Arbeitsfront, Wilhelm Keitel:Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Ernst Kaltenbrunner: Leiter des Reichssicherheitshauptamtes, Alfred Rosenberg:Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, Hans Frank: Generalgouverneur in Polen, Wilhelm Frick: Reichsprotektor für Böhmen und Mähren, Julius Streicher:Schriftleiter des Hetzblattes „Der Stürmer“, Walther Funk: Pressechef der Reichsregierung, Hjalmar Schacht: ehem. Chef der Reichsbank, Karl Dönitz: Großadmiral, Erich Raeder:Generaladmiral, Chef der Kriegsmarine, Baldur v. Schirach:Reichsjugendführer, Gauleiter von Wien, Fritz Sauckel:Verantwortlich für die Sklavenarbeit, Alfred Jodl: Generaloberst, Keitels Gehilfe, Martin Bormann(flüchtig): Leiter der Parteikanzlei, Franz v. Papen: Vizekanzler, Botschafter in Wien, dann Türkei, Arthur Seyß-Inquart: Reichskommissar für die besetzten Niederlande, Albert Speer: Reichsminister für Bewaffnung und Munition, Konstantin v. Neurath: Reichsprotektor für Böhmen und Mähren, Hans Fritzsche: Chef des Großdeutschen Rundfunks, Gustav Krupp v. Bohlen:Kriegsproduzent. Sein Verfahren wurde wegen Krankheit ausgesetzt.

Am 20.November sollte der Prozess beginnen, man rechnete mit einem Jahr Verfahrensdauer.

Nächsten Montag:
Die Autobiografie: Hannes Androsch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2015)

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