London: Im tiefen Schatten des Gurkerls

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Im Jahr 1666 wütete das Große Feuer in einer der ältesten Hauptstädte Europas und zerstörte 13.000 Haushalte und 85 Kirchen. 350 Jahre später lässt sich bei einer Tour entdecken, was vom Feuer verschont wurde.

In diesem Jahr feiert Queen Elizabeth II ihren 90. Geburtstag, Shakespeare hat seinen Todestag zum 400. Mal hinter sich, und 350 Jahre ist es heuer her, dass ein verheerendes Feuer 80 Prozent der Stadt zerstört und 100.000 Menschen obdachlos gemacht hat. Die Brandkatastrophe ereignete sich nur wenige Monate, nachdem die Pest ihr tödliches Unwesen getrieben hatte. Das Feuer wurde insofern auch mehr als Gottes Strafe gesehen denn als Schuld jenes Bäckermeisters, der am Abend des 1. September 1666 das Feuer in seinem Ofen entgegen allen Vorschriften brennen ließ. Ob aus Bequemlichkeit, Trunkenheit oder Vergesslichkeit ist nicht überliefert.

Wie auch immer: Ein Funken brachte einen Stoß Feuerholz zum Brennen, und es dauerte nicht lang, bis die eng aneinander gebauten Holzhäuser, deren Dächer mit Pech wasserdicht gemacht worden waren, lichterloh brannten. Starker Wind tat sein Übriges – der Bürgermeister von London sollte mit seiner Aussage „Pish! A woman might piss it out!“ – „Pah, eine Frau kann es auspinkeln“ – nicht recht behalten. Erst das weiträumige Niederreißen von noch nicht brennenden Gebäuden und das Abflauen des Winds konnte das Wüten des Elements nach vier Tagen stoppen. Das Feuer hat an seinem Ausgangspunkt in der Pudding Lane bis zu 1700 Grad erreicht – eine Temperatur, die sogar Stein schmelzen lässt. Wenig verwunderlich also, dass nur wenige Tote gefunden wurden.
Ein Überlebender des Brands, dem wir dank seiner Tagebücher viel Wissen über die damaligen Ereignisse verdanken, ist der Staatssekretär Samuel Peyps. Er war es auch, der den König in den Morgenstunden des 2. September vom Brand informierte und um Erlaubnis bat, das Sprengen von Häuserzeilen anzuordnen. Sein Nachfahre Robert Wynn Jones hat es sich zur Aufgabe gemacht, all jene Strukturen, Kirchen und Straßen zu dokumentieren, die das Große Feuer verschont hat. Der Buchautor und Blogger bietet verschiedene Touren an und deckt ein geschichtliches Spektrum von den Römern über die Sachsen bis hin zu den Tudors ab.

Wer möglichst viel auf einer seiner Touren sehen will, aber nur wenig Zeit hat, sollte gut zu Fuß sein. Dann schafft man es, mit Jones bis zu 70 Orte innerhalb von sechs Stunden abzuklappern. Selbst mit einem guten Orientierungssinn wird sich bei dem Tempo unweigerlich ein Reisephänomen einstellen: Man hat keine Ahnung, wo man genau steckt und fühlt sich ziemlich „lost“. Das passt aber wunderbar – schließlich wandelt man auf den Spuren einer verlorenen Stadt. Wenn in dieser etwas aufgegraben wird – derzeit sehr viel –, dann tauchen mitunter Gebeine oder Gemäuer auf.

Olfaktorische Eindrücke

Vor beidem stehen wir am Start unserer Tour. In den Ruinen des Augustiner-Priorats St. Mary's Hospital wurde ein Beinhaus mit 10.500 menschlichen Überresten gefunden. „Man nimmt an, dass dies die Opfer der großen Missernte sind, die durch einen Vulkanausbruch 1258 verursacht wurde“, so Jones. Das Bewusstsein, stets auf einer tief in den Boden reichenden archäologischen Schicht zu gehen, begleitet einen sprichwörtlich auf Schritt und Tritt. Und doch ist inmitten all der modernen Gebäude viel Vorstellungskraft notwendig, um das Mittelalter zum Leben zu erwecken. Eine Vorstellung davon, wie eng die Menschen zur Zeit des Großen Feuers zusammengelebt haben, bekommt man werktags zur Stoßzeit im Finanzbezirk City of London: Zwischen Duftwolken von Armani bis Zegna mag man sich lieber nicht vorstellen, wie anders der olfaktorische Eindruck damals gewesen sein muss. Man stoppt vor dem Büroturm, der ob seiner Linienführung im Volksmund The Gerkin, Gurkerl, heißt, und blickt andächtig auf die gotischen Formen der davor stehenden Kirche St. Andrew Undershaft. Was wohl das einstige Pfarrmitglied Hans Holbein der Jüngere zu diesem Kontrast sagen würde?

Eine weitere „Überlebende“ des Feuers, die im Schatten des Gurkerls steht, ist die Kirche St. Helen, aufgrund ihrer Schönheit auch Westminster Abbey of the City genannt. Außerhalb der Messen bleibt einem der Blick in das Innere der Kirche meist verwehrt. Praktisch, dass Jones großformatige Fotoausdrucke bei sich trägt, die die Neugierde mit geringstem Zeitaufwand befriedigen.
Ein Ort, an dem man seine Fantasie freiwillig zügelt, ist der ehemalige Viehmarkt und Schlachthof Smithfield, der wahrscheinlich blutigste Platz Londons neben dem Tower und dem Galgen am Tyburn Hill. Nicht nur unzählige Tiere fanden dort ihr Ende, auch der schottische Freiheitskämpfer William Wallace, vielen bekannt durch den Film „Braveheart“.

Da er sich weigerte, dem englischen König die Treue zu schwören, wurde er durch Hängen, Ausweiden und Vierteilen zum Tod verurteilt. Der Legende nach soll er bei der Hinrichtung noch folgende Worte an die Schaulustigen gerichtet haben: „Ihr englischen Hunde ihr, küsst meinen schottischen Hintern, und seid stolz darauf, dies tun zu können, etwas Besseres kann einem jämmerlichen Engländer nicht passieren!“ Wie schön, dass man bei der Gedenktafel des todesmutigen Schotten den Kopf nur nach links drehen muss und einen friedvolleren Ort erblickt, der auch schon als Kulisse für den Hollywood-Film „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ hergehalten hat: Die Kirche und das Torhaus von St. Bartholomew the Great bilden einen malerischen Platz, auch ohne Hugh Grant. Biegt man von der Charterhouse Street in die Seitengasse Ely Place ab, steht man vor dem Ye Olde Mitre, jenem Pub, in dem bereits Elizabeth I. mit einem ihrer Geliebten, Sir Christopher Hatton, getanzt haben soll, ein wahrlich optimaler Ort, um ein gepflegtes Fulton-Bier zu trinken. Ebenso geeignet, allerdings ein gutes Stück Fußweg entfernt, ist das The George Inn inmitten des berüchtigten Southwark-Viertels.

Narben entdecken

Hier siedelten sich allerhand Vergnügungseinrichtungen an, die in der „City“ nicht gern gesehen waren, vom Theater bis zum Bordell. Letztgenannte zahlten zwar Pacht an den Bischof von Winchester, den Frauen, im Volksmund Winchester geese, Gänse, genannt, wurde jedoch ein kirchliches Begräbnis verwehrt. Auf dem Cross-Bones-Friedhof, damals Single Woman's churchyard genannt, fanden sie ihre letzte Ruhestätte. 148 Skelette wurden dort gefunden, doch man schätzt, dass die Zahl nur etwa einem Prozent der hier seit dem Mittelalter begrabenen Menschen entspricht. Eine lokale Community wehrt sich gegen den geplanten Verkauf des Areals, auf dem anstelle des bestehenden Gedächtnisgartens wahrscheinlich Wohnungen für die Topverdiener Londons gebaut würden. Was würde Shakespeare dazu sagen? Vielleicht: „Der Narben lacht, wer Wunden nie gefühlt.“ Die Wunde, die das Große Feuer hinterlassen hat, wird durch ihre über die Jahrhunderte gewachsene Mischung aus Alt und Neu jedenfalls zu einer Narbe, die es lohnt, entdeckt zu werden.

ÜBER 311 STUFEN AUF EINUNDSECHZIG METER HÖHE STEIGEN

Auf Tour gehen: Robert Jones bietet verschiedene historische Schwerpunkte an und geht auf individuelle Wünsche ein: lostcityoflondon.co.uk

Im Tower of London: Die White Chapel Tour hat fixe Startzeiten. Je zeitiger man im Tower ist, desto weniger Touristen drängen durch die Gemäuer, die von Wilhelm dem Eroberer erbaut wurden. hrp.org.uk

Aussicht genießen: Das Monument besteigen! Die Höhe der Säule von 61 Metern markiert die Distanz zwischen dem Standplatz und der Bäckerei, in der das Feuer ausgebrochen ist. Wer die 311 Stufen zur Aussichtsplattform hinauf bewältigt, erhält eine Urkunde. Die Säule wurde von Christopher Wren erbaut, dem wichtigsten Architekten Londons nach dem Großen Feuer. Sein Hauptwerk ist die St Paul's Cathedral.

Schlafen und Essen:
Ein „Inn“ aus Shakespeares Zeiten: george-southwark.co.uk/. Das Pub, in dem bereits Elizabeth I. getanzt und getrunken hat: yeoldemitreholborn.co.uk/

Der Borough Market existiert seit dem 13. Jahrhundert und ist immer noch ein Hotspot für Streetfood, inmitten des charmanten „Strizzi-Viertels“ Southwark: boroughmarket.org.uk/

Relativ günstig für Londoner Verhältnisse wohnt man dort, wo vor dem Feuer die Royal Wardrobe untergebracht war, wo königliche Besitztümer aufbewahrt wurden: serviced-apartments.bridgestreet.com

Besuchen: Die interaktive Sonderausstellung „Fire! Fire!“ im Museum of London zeigt Exponate, die den Brand überstanden haben, sowie Briefe Überlebender und stellt die Pudding Lane zur Zeit des Brands nach. 23. Juli bis 17. April 2017, museumoflondon.co.uk

Innehalten: Bei Cross Bones, einem mittelalterlichen Friedhof für Prostituierte und Almosenempfänger, der erst 1853 geschlossen wurde: crossbones.org.uk/

Nachlesen: „The Lost City of London“, Robert Wynn Jones, Amberley Publishing, 20,60 Euro

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