Bis ins x-te Glied: Der Stammbaum der Mathematik

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Ein Großprojekt versucht, die Lebensdaten sämtlicher Mathematiker zu verknüpfen, so weit zurück wie möglich. Dabei zeigt sich, welche Lehrer die stärkste Wirkung hatten, dabei zeigen sich auch Interessenverschiebungen und Einflüsse der Weltgeschichte.

„Sem zeugte Arpachad. Arpachad zeugte Schelach. Schelach zeugte Eber.“ Und so weiter bis zu Abram. Von solchen Genealogien ist das Alte Testament voll, auch andere Kulturen haben sich ihrer Gründerväter und der durchgehenden Linie versichert. Nun versucht es erstmals eine Wissenschaft, die Mathematik. Diese ist auch uralt, formalisiert wurde sie vor 4500 Jahren in Babylon, wohl auch in Ägypten, aber bis zu diesen Wurzeln lässt sich genealogisch nicht graben.

Immerhin, für die letzten sechs Jahrhunderte versucht man es, im Rahmen des Mathematics Genealogy Project (MPG), das den Werdegang einzelner Familien verfolgt – analog zu Stammbäumen in der Biologie – und unter Familien die von Lehrern und Schülern und deren Schülern versteht. Seit 1990 wird an der North Dakota State University eine Datenbank aufgebaut, derzeit enthält sie die Daten von 201.618 Mathematikern. Floriana Gargiulo hat sie ausgewertet – mit lernenden Algorithmen –, sie hat 84 Familien gefunden.

Kleinere und größere: Zwei Drittel aller Mathematiker sind in 24 Familien konzentriert, und die sind wieder von drei Schwergewichten dominiert: Sigismondo Polcastra, ein Arzt in Padua im 15. Jahrhundert, ist der Vater von 56.387 Mathematikern, es folgen der Russe Iwan Dolbnya (19. Jh., 18.968) und der Franzose Jean Le Rond d'Alembert (18. Jh., 15.732). Dann Friedrich Leibniz (17. Jh., 10.039), Friedrich, ein Notar und Moralphilosoph – viele Väter sind Quereinsteiger, die selbst nicht Mathematik studiert haben – und leiblicher Vater von Gottfried Wilhelm.

Der selbst ist in der Mathematik kein Vater, viele von denen, auf die die erste Intuition tippt, sind es nicht: Leonhard Euler etwa. Der hatte zwar Lagrange als Schüler, und der hatte Fourier, und diese Familie zeugte sich fort bis zu David Hilbert, dem wohl Wichtigsten der Zunft im 20. Jahrhundert. Aber Euler studierte eben selbst, bei Johann Bernoulli. Der war sein Doktorvater, und entlang dieser väterlichen Linie wurden die Stammbäume geführt, allfällige zweite Doktorväter wurden ausgeschieden, um das Bild übersichtlich zu halten.

Welche Länder kamen, welche gingen

Aber Gargiulo ging es nicht nur um die Geschichte akademischer Familien, auch um die der Mathematik. Sie konnte etwa Umschwünge der Interessen aus den Daten lesen und auch Weltgeschichte: Griechenland, Frankreich und Italien haben schon lange ihre starken Rollen eingebüßt, und mit der Donaumonarchie verschwand am Ende des Ersten Weltkriegs auch ihre einst bedeutende Mathematik. Im Gegenzug drängten die USA nach vorn, sie überholten zahlenmäßig in den 1930er-Jahren Deutschland – auch weil viele von dort emigriert waren –, in den 60er-Jahren zeigte die Sowjetunion, dass sie aufgeholt hatte, nach ihrem Zerfall ging es wieder bergab. Dann kamen Indien und China.

Allerorten wird heute viel angewandte Mathematik betrieben, von Statistik bis Computerwissenschaft, das war schon einmal so: Zu Beginn der industriellen Revolution verband sich die Mathematik mit angewandter Physik: Thermodynamik, Mechanik, Elektromagnetismus, zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging es mehr ins Abstrakte (EPJ Data Science 5:26, frei zugänglich wie auch das Mathematics Genealogy Project; Vorsicht, dort sind die Stammbäume breiter, weil alle Doktorväter einbezogen wurden, nicht nur der erste).

„Man kann sehen, wie die Mathematik sich im Lauf der Zeit entwickelt hat“, resümiert Gargiulo. Aber warum kam just die Mathematik auf Genealogie? Roberta Sinatra, Mathematikerin der Uni Budapest, vermutet, einer Eigenheit der Zunft wegen: Weil Mathematiker nicht viel publizieren, stützen sie ihre Reputation auf die Namen der Kollegen, mit denen sie zusammenhängen (Naturenews 26. 8.). Allerdings ziehen die ersten nach: Astronomen haben ein Projekt initiiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2016)

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