Barfuß auf den Gipfel gehen – vom Eros der Natur

In der Wärme des Sommers und in der Freiheit des Urlaubs bekommen unsere Füße endlich wieder Zeit, um zu spüren.

BIMAIL

Der Freihut ist einer der unaufdringlichen Berge im Tiroler Sellraintal, wo sich Stille und Einsamkeit finden lassen. Als ich dieser Tage barfuß aufstieg, staunte ich über die Vielfalt der Sinneseindrücke. Nach den sanften Weiden der Gleirschalm führt der Steig über Waldböden und quert Wasserläufe. Kühler, silbriger Gletscherschlick und die warme, braune Hochmoorerde werden da vom frischen Bergwasser zwischen den Zehen herausgespült. Höher steigend spüren die Fußsohlen bald den Teppich duftender Zirbennadeln, bald die feinen Kanten von in tausenden Frösten zersplittertem Gneis. Umso weicher sind die knöcheltiefen Polster sibirischer Moose, bevor an der Bergschulter kühle Büschel von Frauenmantelblättern und samtige Beete von Bergblumen einander abwechseln. Die Beine werden von einem zu querenden Altschneefeld intensiv erfrischt, bevor auf dem blockigen Gratrücken rostig-rotbraune Steinplatten, vor 20 Jahrtausenden von Gletschereis geformt, jene Strahlen der Bergsonne weitergeben, die sie in den vergangenen Stunden als tiefe Wärme aufgesogen haben. Als ich am Gipfel die Stille des abendlichen Lichts genieße, wird mir bewusst, wie die Bergwelt zwar Vorsicht verlangt, uns aber freundlich in ihre Arme nimmt.

Am Freihut fühlte ich mich neu geerdet, verbunden mit der Heiligkeit der Natur. Mose kam mir in den Sinn, der sich nur barfuß dem brennenden Dornbusch nähern durfte, als er in der Einsamkeit des Sinaigebirges erstmals den Ruf des Heiligen hörte. Davids Gebet fiel mir ein: Gott „stellte meine Füße auf den Fels, machte fest meine Schritte“ (Psalm40). Und Ezechiel, der sich angesichts der Gotteserscheinung zu Boden geworfen hatte, als er die Stimme hörte: „Menschensohn, stelle dich auf deine Füße, und ich will mit dir reden!“

Zurück im Tal braucht es eine besondere Fußpflege, was mich wiederum an Abraham erinnert, der seinen drei mysteriösen Gästen als Zeichen der Gastfreundschaft Wasser zum Füßewaschen gab. In der biblischen Kultur, in der das Barfußgehen zum Alltag gehörte, war dies allgemeiner Brauch. Wenn Jesus Petrus die Füße wäscht, ist dies eine sinnliche Wohltat zum Abschied in einer Freundschaft, deren Umgangston zuweilen rau gewesen ist. Indem Jesus seinen Jüngern die Füße wäscht, berührt er die Erinnerung an ihre Reisen, befreit sie von den Folgen schmutziger und dorniger Wege. Er bereitet sie für eine gepflegte Rast im Haus und neue Aufbrüche vor.

»Wie bin ich geerdet? Wer reinigt meine Fußsohlen für neue Aufbrüche? «

Joh 13,10

Unsere geplagten Füße, in Socken verpackt, durch Leder und Gummisohlen ihrer Heimat entfremdet, bekommen in der Wärme des Sommers und in der Freiheit des Urlaubs die Chance zu atmen, sich mit dem Sand des Meeres oder dem Waldboden der Heimat zu verbinden und die Freundlichkeit der Natur zu erfahren. Endlich wieder Zeit, um zu spüren: Wie fühlt sich der Boden unter meinen Füßen an? Wie bin ich geerdet? Wer reinigt meine Fußsohlen für neue Aufbrüche?


Bimail steht für Bibelmail, ein wöchentliches Rundschreiben des Teams um Pater Georg Sporschill, adressiert an Führungskräfte. Darin werden Lehren aus der Bibel auf das Leben von heute umgelegt.


E-Mails an: bimail@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.07.2012)

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