Das Kindergrab aus Halbturn und das Zentrum der Religion

Was ist das Zentrum meiner Überzeugungen? Auch Papst Franziskus wird sich Fragen wie dieser stellen müssen.

»Glaubt an Gott und glaubt an mich!


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Joh 14,1

Ein Stück Goldblech ist einer der erstaunlichsten Funde der jüngeren österreichischen Archäologie. In griechischen Großbuchstaben liest man darauf eingraviert: „SYMA ISTRAEL ADONE ELOE ADON A“. Trotz der sonderbaren Schreibweise besteht kein Zweifel daran, dass es sich dabei um das hebräische Schema Israel handelt – zu deutsch: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig.“ Diese Aussage stammt aus dem Buch Deuteronomium und ist bis heute ein zentrales Bekenntnis im täglichen Gebet orthodoxer Juden.

Das Goldblech war ursprünglich gefaltet, eingerollt und in einer silbernen Kapsel verwahrt. Die Kapsel wurde im Jahr 2000 im Grab eines Kleinkindes im burgenländischen Halbturn nahe Carnuntum entdeckt. Die Inschrift datiert in das dritte Jahrhundert nach Christus und ist der älteste Beleg jüdischen Lebens im heutigen Österreich.
Das Amulett fügt sich in eine faszinierende kulturgeschichtliche Entwicklung ein, die fünf Jahrtausende umspannt. Ein gut erhaltenes Exemplar etwa stammt aus Deir el-Medina bei Luxor, der Siedlung jener Arbeiter, die die Pharaonengräber im Tal der Könige aus dem Fels schlugen. Die Phönizier übernahmen den Brauch im siebten Jahrhundert vor Christus. Sie bewahrten die ägyptischen Sprüche treu, gravierten sie aber auf Silber oder Gold.

Ebenfalls in der Eisenzeit beeinflusste der Brauch die israelitischen Autoren des Buches Deuteronomium: „Du sollst (diese Worte) als Zeichen auf deine Hand binden und sie als Merkzeichen auf der Stirn tragen“ (Dtn 6,8). Wie Funde aus Qumran beweisen, folgen Juden seit der Antike dieser Aufforderung, indem sie sich beim Gebet Kapseln mit Worten aus dem Buch Deuteronomium um die Hand und an die Stirn binden.
In dieser Tradition hatten vermutlich jüdische Eltern das Amulett von Halbturn ihrem Säugling zum Schutz gegeben. Der Brauch stammte aus Ägypten, das Material aus Phönizien, die Schrift aus Griechenland. Sie lebten im heutigen Österreich, zentral war für sie nur eines: das biblische Bekenntnis zum einzigen Gott.

Die Anpassungsfähigkeit der Diasporajuden wurde zum Erfolgsrezept des frühen Christentums. Das Johannesevangelium verbindet seine jüdischen Wurzeln mit dem Denken griechischer Philosophie. Sein zentrales Anliegen, Jesus als Selbstoffenbarung des einzigen Gottes zu verstehen, kommt zum Ausdruck, wenn er selbst in seinen Abschiedsreden sagt: „Glaubt an Gott und glaubt an mich!“
Ebenso wie dieses Evangelium spiegelt das Amulett aus Halbturn die Frage: Was ist das Zentrum meiner Überzeugungen? In welchen Dingen möchte ich mich meiner Umwelt anpassen? Fragen, denen sich nicht nur Papst Franziskus wird stellen müssen. Sie stellen sich jedem Menschen in einer immer vielfältiger sich entfaltenden Welt.

Bimail steht für Bibelmail, ein wöchentliches Rundschreiben des Teams um Pater Georg Sporschill, adressiert an Führungskräfte. Darin werden Lehren aus der Bibel auf das Leben von heute umgelegt.


E-Mails: debatte@diepresse.com

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