Auf der Flucht: Vom Gott der Migranten

Wenn es den Gott der Bibel gibt, dann hört er die Schreie der im Mittelmeer Ertrinkenden.

Am brennenden Dornbusch, mitten in der Wüste, barfuß und mit verhülltem Gesicht fragte Mose Gott, wie er denn heiße. „Ich bin, der ich bin“, oder „Ich werde sein, wer immer ich sein werde“, so die rätselhafte göttliche Antwort. Sie deutet einen Namen, der in vier geheimnisvollen Buchstaben geschrieben ist: JHWH.

Die vier Buchstaben, auf Griechisch „Tetragramm“, fälschlich „Jehova“ gelesen, bezeichneten ursprünglich einen der vielen Götter des Alten Orients. Er kam wohl am Ende der Bronzezeit als kämpfender Sturmgott aus den arabischen Wüsten. Im wachsenden Volk Israel jedoch wurde er mit El, dem mächtigen Herrschergott, identifiziert und entwickelte sich zu „Gott“, „älohim“, schlechthin. So geheimnisvoll die Deutung seines Namens am brennenden Dornbusch ist, so konkret präsentiert sich sein Charakter.

JHWH ist Mose erschienen, weil er das Schreien der Israeliten in Ägypten gehört hat, weil er sich kompromisslos für sie einsetzen und sie aus der Gewalt des Pharao befreien will. Die Flucht durch das Schilfmeer wird gleichsam zur Geburt des Volkes.

Was wie ein romantischer, spannend erzählter Mythos klingt, erweist sich spätestens am Berg Sinai als eine anspruchsvolle Konzeption gesellschaftlicher Ethik. Auf dem Berg Sinai nämlich vermittelt Gott seinem geretteten Volk den moralischen Anspruch, der mit seiner Rettung verbunden ist: „Einen Fremden wirst du nicht bedrücken. Ihr wisst ja selbst, wie es einem Fremden zumute ist, denn Fremde seid ihr gewesen im Land Ägypten.“

Der Gott der Bibel ist ein Gott der Befreiung, konkret: ein Gott von Migranten. Diese Erzählung der Befreiung als Fundament des von göttlicher Autorität proklamierten Ethos der Solidarität zu gestalten gehört zu den einmaligen Errungenschaften der biblischen Schriftsteller. Mit dieser Gründungserzählung des Gottesvolkes identifizieren sich Juden; aber auch Christen, da Jesus, dessen Name „Retter“ bedeutet, für sie den göttlichen Namen vom brennenden Dornbusch über die Grenzen des jüdischen Volkes hinaus offenbart hat.

»Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast.«

Joh 17,6

Wie grausam kontrastiert diese hoffnungsvolle Erzählung der Rettung aus dem Schilfmeer mit der Flucht übers Mittelmeer, die zur Horrorgeschichte unserer Tage geworden ist. Das Mittelmeer, das Afrika, Asien und Europa seit den Phöniziern zu einem Kulturraum verband, ist zu einem Wassergraben der Festung Europa verkommen, zu einem stinkenden Todessumpf.

Sizilianische Fischer finden immer weniger Fische in ihren Netzen und immer mehr Leichen. Frauenleichen, Männerleichen, Kinderleichen. Wenn es den Gott der Bibel gibt, dann hört er die Schreie der im Mittelmeer Ertrinkenden. Und er wird ihre Schlepper, die korrupten Politiker und Kriegsherren ihrer Heimatländer, aber auch das scheinbar hilf- und machtlos danebenstehende Europa, für ihr Leben zur Rechenschaft ziehen.

Bimail steht für Bibelmail, ein wöchentliches Rundschreiben des Teams um Pater Georg Sporschill, adressiert an Führungskräfte. Darin werden Lehren aus der Bibel auf das Leben von heute umgelegt.

Emails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.05.2015)

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