Der Tag der Scheidung, der Entlassung, der Kündigung

Manche Situationen entwickeln sich so dramatisch, dass eines Tages eine Entscheidung notwendig wird, alles zu riskieren.

BIMAIL
Die Eltern hätten sie auf die Straße gesetzt, lallte das Mädchen. Das hatte ich erwartet. Seit Jahren ist Lisa den Drogen ausgeliefert. Nicht nur aus einer Schule ist sie hinausgeflogen. Sie bestahl die Eltern und dann die jüngeren Geschwister, die Freunde wendeten sich von ihr ab. Die neuen Freunde zogen sie noch tiefer in Kriminalität und Krankheit. Therapien brach sie ab.

Dann folgten Selbstmordversuche. Wieder und wieder wurde sie zu Hause aufgenommen, bis sie auf die Mutter losging. Nach diesem schlimmen Erlebnis besuchte ich die Eltern. „Lisa ist nicht mehr unsere Tochter“, sagten sie.

Für die Eltern war es wie ein Todesurteil am Ende eines Leidensweges. Das ist der Punkt, an dem es im Hohen Rat über Jesus heißt: „ Von diesem Tag an waren sie entschlossen, ihn zu töten.“ Wer kann einen solchen Beschluss fassen, wer ist verantwortlich? Der Hohe Rat der Juden, das Gericht des römischen Statthalters Pilatus oder Gott selbst, ein göttliches „Muss“? Kann der Entschluss, einen Menschen aufzugeben, berechtigt und sinnvoll sein?

Nach der Bibel gibt Gott in Extremsituationen den Auftrag zu töten. Vierzig Tage und Nächte war Mose auf dem Berg Sinai und empfing von Gott die Weisungen, wie ein Leben gelingen kann. Als er zum Volk zurückkehrt, muss er ansehen, wie sein Bruder und Stellvertreter Aaron das Volk verwildern ließ. In seiner Verzweiflung versammelt Mose die Leviten und gibt ihnen im Namen Gottes den Auftrag, von Zelt zu Zelt zu gehen, um die Verantwortlichen zu töten, die das Volk verführt und ins Verderben gestürzt haben.

Ob Widersacher oder Freund, sie müssen sterben, damit nicht das ganze Volk um das Goldene Kalb tanzt und seine Zukunft verspielt. Dreitausend müssen an jenem Tag dran glauben.

Der Auftrag, zu töten, kam von Gott. In Situationen, in denen es um alles ging. In denen die Menschen sich selbst und das Volk gefährdeten. Einzelne mussten sterben, um das Volk und die Zukunft zu retten. So ähnlich argumentierten die Hohen Priester beim Prozess Jesu, als der Untergang des Volkes und die Zerstörung des Tempels drohten.

Da der jüdischen Gerichtsbarkeit ein Todesurteil nicht zustand, lieferten sie Jesus an die römischen Behörden aus. Der mächtige Statthalter Pilatus nahm wider besseres Wissen seine Kompetenzen nicht wahr, für die Gerechtigkeit einzutreten und Jesus zu schützen. Zynisch oder populistisch fällte er das Todesurteil und wurde so zu einem Werkzeug der göttlichen Erlösung.

Die Eltern trennten sich von ihrer Tochter, um die Familie zu retten. Sie wussten nicht, ob das drogensüchtige Kind ihren Entschluss überleben würde. Wann kommt in einer Leidensgeschichte der Tag, an dem ich mich trennen muss?


Bimail steht für Bibelmail, ein wöchentliches Rundschreiben des Teams um Pater Georg Sporschill, adressiert an Führungskräfte. Darin werden Lehren aus der Bibel auf das Leben von heute umgelegt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.11.2010)

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