Wo ist mein Jerusalem? Über die Ausrichtung des Lebens

Schlüsselerfahrungen lassen Menschen die Grundausrichtung des Lebens spüren. Wo kann ich sie mir in Erinnerung rufen?

Viele zogen vor dem Paschafest vom Lande nach Jerusalem hinauf, um sich zu heiligen.

Joh 11,55

Dieses Kind wird groß sein“, soll ein alter Mann bei der Geburt von Ellen Johnson Sirleaf vorhergesagt haben. Selbstironisch berichtet sie, diese Anekdote sei in ihrer Familie vor allem in turbulenten Situationen ihres Lebens erzählt worden.

Konsequentes Studium in Harvard, harte Arbeit und privater Verzicht bildeten den Hintergrund für ihren beruflichen Erfolg. Als sie 2006 als Präsidentin Liberias vereidigt wurde und damit als erste Frau an die Spitze eines afrikanischen Staates trat, bedeutete dies einen Triumph für die Würde der Frau in einer von männlicher Dominanz geprägten Kultur.

Die zunächst belächelte, aber schließlich unwiderruflich bestätigte Prophezeiung zu Beginn von Sirleafs Leben erinnert so sehr an biblische Kindheitsgeschichten, dass sie beinahe unglaubwürdig erscheint.

Das Lukasevangelium berichtet, Jesus sei als Baby von seinen Eltern in den Tempel getragen worden, und der alte Mann Simeon habe betend ausgerufen: „Meine Augen haben deine Rettung gesehen, die du vor dem Angesicht aller Nationen vorbereitet hast: ein Licht, das den Völkern Offenbarung bringt und Herrlichkeit für deine Nation Israel.“

So sehr in diesen wenigen Worten ein Lebensprogramm und die Bedeutung Jesu für die Welt zusammengefasst werden soll − Jesus selbst kann sich seiner Lebensaufgabe erst später bewusst geworden sein. Als Kind war er wohl fasziniert, wenn in der heimatlichen Synagoge aus dem Jesajabuch vorgetragen wurde, fasziniert von der Hoffnung auf einen Friedensfürsten, der gebrochene Herzen heilt und Gefangene befreit. Darüber hinaus aber kam er jährlich mit seinen Eltern nach Jerusalem zu den großen Wallfahrtsfesten in den Tempel, an den Ort, wo die geheimnisvollen Worte über ihn gesagt worden waren.

Die Vorfreude darauf empfand er mit den Worten von Psalm 122: „Ich freute mich, als man mir sagte: ,Zum Haus des Herrn wollen wir pilgern.‘ Schon stehen wir in deinen Toren, Jerusalem!“

Jesus hörte die Psalmengesänge im Tempel und fühlte sich dort zuhause, wenn er mit der großen Menge seiner Landsleute in religiöser Freude versammelt war. In Jesus wurde bei diesen Festen vielleicht die Ahnung bestärkt, dass er für diese religiöse Gemeinschaft sein Leben einsetzen sollte. Dies wurde immer mehr zu seinem tiefsten Wunsch.

Bei meiner Geburt wurde glücklicherweise keine großartige Prophezeiung ausgesprochen. Ich muss nichts Großes leisten wie Jesus oder Ellen Johnson Sirleaf. Doch auch in meinem Leben gab es Momente, in denen ich meine Grundausrichtung spüren konnte. Wenn ich erschüttert werde, muss ich neue Orientierung suchen. Und ich frage mich, wo ich mich an diese Schlüsselerlebnisse erinnern kann. Wo ist mein Jerusalem?

Bimail steht für Bibelmail, ein wöchentliches Rundschreiben des Teams um Pater Georg Sporschill, adressiert an Führungskräfte. Darin werden Lehren aus der Bibel auf das Leben von heute umgelegt.


E-Mails: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.01.2011)

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