Konformitätsdruck

Von unkorrekten Kinderbüchern, EU-Attacken und der Frage, ob Mann und Frau freier werden, wenn man alte Geschlechterstereotypen durch neue ersetzt.

Der in die Sowjetunion zurückgekehrte Dichter Maxim Gorki hat 1936, in seinem letzten Lebensjahr, Stalin und das Politbüro aufgefordert, sie mögen doch die Werke der Weltliteratur durch Schriftsteller des Sozialistischen Realismus neu schreiben lassen. Stalin ist dieser Idee nicht nähergetreten, aber ich musste doch dran denken, als ich kürzlich las, die EU beabsichtige, die Kinderliteratur umzuschreiben, weil die Klassiker nur so wimmeln vor Geschlechterstereotypen: erwerbstätigen Männern und haushaltsführenden Frauen.

Seriöse Medien wie „Die Presse“ haben freilich sofort die Zeitungsente gerochen und aufgespießt: Es war nur ein unverbindlicher Ausschussbericht des Europaparlamentes, und da stand auch nichts von Umschreiben. Die 54 Damen und sechs Herren des „Parlamentarischen Ausschusses für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter“ unter Leitung des schwedischen Grünen Mikael Gustavsson haben lediglich in ihrem „Bericht über den Abbau von Geschlechterstereotypen“ angemerkt, dass „Geschlechterstereotypen in Grundschulen und weiterführenden Schulen die Wahrnehmung junger Kinder und Jugendlicher beeinflussen, wie Männer und Frauen sich verhalten sollten“. Neue Lernmaterialien sollten daher Männer und Frauen nicht mehr in ihren „traditionellen Rollen“ zeigen, „mit dem Mann als Ernährer der Familie und der Frau als derjenigen, die die Betreuung der Kinder übernimmt“.

Das ist ja nun wirklich kein sensationell neues Ansinnen. Aber das dahinterstehende Dilemma ist doch immer wieder spannend: Soll man nun den Kindern in der Schule zeigen, wie die Welt ist, auf die Gefahr hin, dass sie dann auch so bleibt? Oder soll man ihnen etwas vorgaukeln – damit die Welt einmal so wird? Aber ist das dann noch Bildung oder schon Manipulation? Oder ist Bildung sowieso Manipulation?

Es scheint hier jedenfalls nicht darum zu gehen, Menschen aus einer Fremdbestimmtheit herauszuhelfen. Der gesellschaftliche Druck, die Beeinflussung der „Wahrnehmung junger Kinder und Jugendlicher“ soll ja gar nicht verringert werden, sondern nur mit den „richtigen“ Normen gefüllt: Wie sollt ihr euch verhalten? Nicht traditionell! Ach, immer diese Imperative...

Schade. Aber vielleicht ist meine Vorstellung von Erziehung ja wirklich abseitig – dass sie nämlich Kindern ermöglichen soll, später einmal möglichst unabhängig von gesellschaftlichen Erwartungen Lebensentscheidungen treffen zu können. Vielleicht sollen sie das ja gar nicht können, und ich habe als Kind nur einfach zu viele Bücher gelesen, in denen solche freien Leute vorgekommen sind.
Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

DiePresse.com/cultureclash

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.11.2012)

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