Culture Clash

Leben und Tod. Was ist – ethisch gesehen – eigentlich der Unterschied zwischen Ungeborenen, Neugeborenen, mir und Regenwürmern? Die Antwort darauf kann unsere Freiheit gefährden.

Frontnachrichten
aus dem KulturkampfAls ich letztens hier schrieb, dass ich gegen Abtreibung bin, weil ich das Menschsein als etwas so Großes ansehe, dass es von Anfang an dem menschlichen Wesen seine Würde gibt und nicht erst nach und nach, entgegnete mir eine Leserin: „Nehmen Sie sich nicht so wichtig, auch Sie sind sterblich wie jeder Regenwurm. Und auch Sie werden danach für immer und ewig tot sein – wie jedes andere Lebewesen. Steigen Sie runter von Ihrer Selbsterhöhung!“

Ich glaube zwar, dass ich nach dem Tod viel lebendiger sein werde als jeder Regenwurm (habe dafür freilich genauso wenig einen Beweis wie die Leserin für ihre gegenteilige Behauptung). Aber der eigentliche Punkt liegt woanders: Von meiner Selbsterhöhung steige ich erst dann herunter, wenn Regenwürmer Lyrik verfassen.

Das Argument von Philosophen wie Alberto Giubilini und Francesca Minaerva, die vor einem Jahr im „Journal of Medical Ethics“ das Töten von Neugeborenen moralisch rechtfertigen wollten, klingt nur oberflächlich so ähnlich. Sie ziehen die Grenze zwischen „Personen“ und „Nichtpersonen“. „Personen“ seien alle Individuen, die fähig sind, sich und ihrem eigenen Weiterleben bewusst einen Wert zuzuschreiben. Neugeborene seien wie Embryos (vorläufig noch) „Nichtpersonen“ und als solche keine „Subjekte eines moralischen Rechts auf Leben“. Die Tötung von Neugeborenen unterscheide sich daher moralisch nicht von der Abtreibung.

Dem hat etwa der britisch-indische atheistische Wissenschaftspublizist Kenan Malik widersprochen: Der Fötus sei „Teil des Körpers der Frau“, daher mache die Geburt einen wesentlichen Unterschied, denn durch sie werde die Beziehung der Mutter zum Kind von einer physischen zu einer sozialen. Abtreibung sei nur davor statthaft.

Auch das kann ich nicht nachvollziehen. Wie kann ein bloßer Körperteil durch die Abtrennung mehr werden als bloß ein abgetrennter Körperteil? Ist dieser Organismus dann ein „Selbst“, so war er das auch schon vorher, mit Nabelschnur. Er ist also auch als Fötus ein Mensch – einer von uns, „one of us“, wie es die derzeit laufende europäische Bürgerinitiative nennt. Die Idee, ihn für vogelfrei zu erklären, weil er sich erst in einem halben Jahr bewusst wahrnehmen wird, ist für mich ebenso wie die Idee, dass es sich bei ihm nur um einen Körperteil seiner Mutter handelt, ein Bruch mit der Hochachtung vor dem Menschsein an sich. Diese Hochachtung, die meine Leserin Narzissmus nennt, halte ich aber für unsere wesentliche zivilisatorische Errungenschaft, auf der die Menschenrechte gründen. Man untergräbt sie nicht ohne Folgen.

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com diepresse.com/cultureclash

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.04.2013)

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