Sieg der Toleranz

Eine Nonne hat einen Musikwettbewerb gewonnen. Wird Italien nun seine Religionsgesetzgebung ändern?

Cristina Scuccia aus dem Orden der Ursulinerinnen hat Donnerstagabend die italienische Castingshow „The Voice“ für sich entschieden. Damit hat zum zweiten Mal binnen Wochen eine Vertreterin eines alternativen Lebensentwurfs einen Musikwettbewerb gewonnen. Bevor wir dieses Ereignis als überwältigenden Sieg für Toleranz und Religionsfreiheit feiern, sollten wir einen genaueren Blick auf die Sache werfen. Ist eine Nonne ohne sichtbares Haupthaar überhaupt mit Conchita Wurst zu vergleichen?

Nur sehr bedingt. Während es sich bei Wurst um eine Kunstfigur handelt, ist Schwester Cristina bloß das, wonach sie aussieht. Nach dazu trägt sie eindeutig die hässlicheren Schuhe. Über die Stimmen kann ich kein Urteil abgeben. Weder über die der Sängerinnen – wen interessiert schon, was und wie sie singen? Noch über die erhaltenen Stimmen: Denn nur bei „The Voice“ weiß man, wie viel Prozent der Publikumsstimmen die Siegerin erhalten hat, nämlich 62,3. Der Songcontest hält derlei Zahlen geheim. Niemand weiß daher, ob Conchita die für den ersten Platz nötige Mindestquote von 4,1Prozent des Publikumsvotings erreicht hat oder das Maximum von 100.

Auch die Youtube-Gemeinde ist kein guter Vergleichsmaßstab. Bei Schwester Cristina konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf einen einzigen Clip – ihr erster Auftritt in der Show –, der daher auf 51 Millionen Views kommt, während Conchita Wursts Siegervideo in gleich drei Versionen existiert, auf die sich 40 Millionen Views verteilen.

Trotz alledem ist in Italien ein Hype um Cristina entstanden. Wird auch dort – wie in Österreich nach dem Songcontest – der Ruf nach Gesetzesänderungen laut? Wird nun Italien den Zölibat der Ehe gleichstellen? Wird Enthaltsamkeit als positive Option des Sexuallebens in den Schulbüchern dargestellt werden müssen, um jeder Orgasmusnormativität entgegenzuwirken? Und legt man das „The Voice“-Finale 2015 mit dem Pfingsthochamt zusammen?

Oder bewahren die Italiener ihre sprichwörtliche Ruhe? Schließlich kann man ja auch argumentieren, dass der Sieg einer Nonne keinen Handlungsbedarf auslöst – weil er beweist, dass die Toleranz sogar gegenüber etwas schrilleren Christen schon jetzt die Norm ist.

Man sollte in den Sieg einer jungen Frau in Nonnentracht nicht zu viel hineininterpretieren. Wahrscheinlich wollte sie hauptsächlich gewinnen, dabei aber auch ein Zeichen für die Akzeptanz und Attraktivität ihrer Lebensform setzen. Das ist ihr Recht und sollte niemanden aufregen, egal, wie man zu ihrer Religion steht. Freuen wir uns für sie – und gehen zur Tagesordnung über?


Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/cultureclash

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.06.2014)

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