Der letzte Kalif

Der letzte Kalif und der reichste Mann der Welt. Islamische Autoritäten könnten auch ganz anders sein – das zeigt uns ein kleiner Ausflug in die Zeitgeschichte.

Über die Gräuel von IS oder Boko Haram sagen manche: Hier zeigt sich das wahre Gesicht des Islam. Das ist bei einer Religion mit so vielen Gesichtern natürlich Quatsch. Der Islam kann auch ganz anders daherkommen als in den Versuchen dieser Mörderbanden, mit Gewalt und Terror ein Kalifat zu errichten. Eine Illustration dafür ist die Familiengeschichte des letzten osmanischen Kalifen.

Der Titel eines Kalifen – der im sunnitischen Islam obersten Autorität aller Gläubigen – wurde schon seit Generationen von den osmanischen Herrschern geführt, als Abdülhamid II. ihm 1876 neue Bedeutung verlieh, indem er sich zum Gegengewicht gegen den europäischen Imperialismus „Schutzherr aller Muslime“ nannte. Besonders in Indien machte das Eindruck, wo es seit der Absetzung des Großmoguls 1857 keine zentrale muslimische Autorität mehr gab.

Aber auch das Kalifat ging verloren, als es die Jungtürken 1924 abschafften. Der letzte Kalif Abdülmecit II. ging nach Europa ins Exil. Seine Tochter heiratete wenige Jahre später den ältesten Sohn des Nizam – des unermesslich reichen Herrschers – des indischen Fürstentums Hyderabad. Die Idee war, durch die Verbindung der geistlichen Autorität des Ex-Kalifen-Vaters mit dem Riesenvermögen des Nizam einen neuen Mittelpunkt der sunnitischen Welt entstehen zu lassen. Die Tochter des Kalifen war dabei eine westlich erzogene, moderne Frau, Stammgast in den Pariser Modesalons, die Tennis und Handball spielte, sich sozial engagierte und in Hyderabad die Abschaffung der Verschleierung betrieb.

Ihr Sohn und Erbe, Mukaaram Jah, wurde aber nie ein Pseudo-Kalif. Nach dem Tod des Nizam 1967 Familienchef, löste er den Hofstaat mit 14.000 Bediensteten auf (das rückständige Hyderabad war 1948 dem neuen Staat Indien einverleibt worden) und kaufte sich, enerviert vom Erbschaftsstreit der 2000 Verwandten (allein der alte Nizam hatte 149 Kinder) eine Schaf-Farm in Australien, wo er seiner Bubenleidenschaft für Bulldozer und Bagger frönte.

Bankrottgegangen und viermal geschieden, verschwand Mukaaram von der Bildfläche. Er lebt heute zurückgezogen in einer Zweizimmerwohnung in Antalya. Übrigens hat sein im Wiener Theresianum erzogener Vetter Ertugrul Osman, sechster Anwärter nach Abdülmecit auf Sultanat und Kalifat, auch sein Leben in einer Zweizimmerwohnung verbracht, in New York.

Mukaarams Sohn, der Urenkel des letzten Kalifen, ist Filmer in London. Beim Spielfilm „Navy Seals“, in dem die US-Elitetruppe gegen Nahost-Terroristen kämpft, war er Kameraassistent.

Auch das ist eines der Gesichter des Islam.

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/cultureclash

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2014)

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