Geschwisterliebe

Gehört der konsensuale Inzest zwischen Erwachsenen noch ins Strafgesetzbuch? In Deutschland (wo eine ähnliche Regelung gilt) wird das diskutiert.

Wenige „Presse“-Artikel der Vorwoche hatten so viele Leser wie jener über den deutschen Ethikrat, der Straffreiheit für sexuelle Beziehungen zwischen erwachsenen Geschwistern empfiehlt. Das Thema Inzestverbot ist ja auch in vielen Strafrechten der letzte Tatbestand, der noch die sexuelle Selbstbestimmung wegen eines kulturellen Tabus einschränkt. Davor ist das Verbot homosexueller Akte gefallen; in manchen Rechtsordnungen gab es davor auch noch Bestimmungen gegen sadomasochistische Praktiken.

Dass viele Menschen immer noch eine sehr starke Meinung dazu haben, ob Sex zwischen Geschwistern moralisch gerechtfertigt ist oder nicht, ist freilich im modernen Strafrecht nur mäßig relevant – denn bestraft wird nicht, was uns zuwider ist oder falsch vorkommt, sondern das, wogegen sich eine Gesellschaft mit Staatsgewalt schützen muss.

Die Mehrheitsempfehlung des Ethikrates (14 von 23 Mitgliedern) sieht das Strafrecht demnach auch „nicht als geeignetes Mittel an, um ein gesellschaftliches Tabu zu schützen“. Es werde in vielen Fällen auch niemand durch den Inzest geschädigt, etwa im Anlassfall: zwei Halbgeschwister, die sich erst als Erwachsene kennengelernt und miteinander Kinder haben. Solche abstrakte Gefährdungsdelikte – bei denen kein konkreter Mensch, sondern nur eine abstrakte Größe, z.B. „die Familie generell“ Opfer ist – müssten ganz eng gezogen werden. Und selbst wenn eine konkrete Familie durch die Aufnahme inzestuöser Beziehungen von Erwachsenen beeinträchtig werden sollte, habe das „Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung“ dieser Erwachsenen Vorrang.

Das Minderheitsvotum sieht es anders: Einzelne Inzestbeziehung seien möglicherweise nicht als „tadelnswert“ zu qualifizieren. Dort müsse man das Gesetz aber nicht ändern, sondern nur vernünftiger anwenden. Der Zweck des Tabus rechtfertige aber die Strafrechtsbestimmung: die für das Funktionieren der Familien wichtige „Integrität und Inkompatibilität unterschiedlicher familiärer Rollen“ hochzuhalten. Also dass etwa klar bleibt, dass Bruder und Lebensgefährte zwei verschiedene Dinge sind. „Hier kann dem Recht die Aufgabe zugewiesen sein, die Bedeutung der Norm im allgemeinen Bewusstsein zu halten.“ Auch zum Schutz der Minderjährigen, die weniger leicht zum Opfer würden, wenn „es“ nicht in einem halben Jahr eh legal sein wird.

Ich verstehe das gut. Vielleicht muss Inzest trotzdem nicht im Strafgesetzbuch stehen. Aber ich will nicht eines Tages verpflichtet werden, Inzest auch für gut halten zu müssen. Weil es ja nicht verboten ist.

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.09.2014)

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