Artenpanik

Ein Index des WWF soll zeigen, dass der Mensch seit 1970 die Hälfte der Wirbeltiere auf dem Gewissen hat. Oder die Hälfte der Artenvielfalt. Nur: Es stimmt nicht.

Wenige Tage vor dem Welttierschutztag hat der World Wildlife Fund (WWF) berichtet, dass sein Living Planet Index (LPI) seit 1970 von 100 auf 48 Punkte gefallen ist. „Tierwelt: Der Mensch halbierte die Artenvielfalt in 40 Jahren“ titelte dazu „Die Presse“ online, während die „Süddeutsche“ berichtete: „Mensch halbiert Zahl der Wirbeltiere“.

Ich habe mir daraufhin den Index genauer angesehen. Und gestaunt. Er sagt weder etwas über die Zahl der Arten oder ihr Sterben aus noch über die Zahl aller Wirbeltiere. Der LPI wird aus Daten gespeist, die aus der Beobachtung von knapp 10.000 einzelnen Populationen von 3038 Wirbeltier-Spezies kommen. Das sind 4,8 Prozent aller Wirbeltierarten, die es heute gibt. Und sie sind nicht repräsentativ: nicht für die Biodiversität der Welt oder auch nur der Wirbeltiere.

Es sind einfach jene Arten, von denen irgendjemand irgendwo einen Bestand zählt. Bedrohte Arten sind da von vornherein überrepräsentiert. Die Feldmaus oder der Maulwurf kommen gar nicht vor, aber zum gefährdeten Östlichen Kaiseradler kommen Daten von gleich zehn Populationen. Aus Österreich kommen außer zu Vögeln nur die Daten von Luchs, Bär und Springfrosch. In Venezuela (hab ich zufällig herausgesucht) gehören vier von zehn beobachteten Populationen zu gefährdeten Arten.

Der LPI fügt jedes Jahr die Veränderungen der einzelnen Population – die er gewichtet – zu einem Gesamtwert. Was sagt uns der? Nicht viel mehr als wie sich die 10.380 beobachteten Populationen entwickeln. Wie sie sich seit 1970 im Ganzen verändert haben, ist aber nicht ablesbar. Denn damals hat der LPI viel weniger Arten ausgewertet. Allein seit 2006 hat sich die Zahl erfasster Arten im LPI mehr als verdoppelt. So etwas macht den statistischen Vergleich mit der Vergangenheit immer unmöglicher.

Natürlich sieht man auch größere Trends: Dass gefährdete Arten, für die niemand etwas tut, tatsächlich schrumpfen. Dass dort, wo heute weniger Dschungel ist, auch weniger Dschungeltiere leben. Aber wenn in einen der drei Teiche, in denen der LPI den europaweiten Bestand des Springfrosches misst, ein Traktor hineingefallen ist – sagt das wirklich etwas aus über die Artenvielfalt der Welt?

Biodiversität ist ein wichtiges Thema. Die LPI-Datenbank ist sicher hilfreich, und ein guter Indikator-Index wäre das auch. Aber der mediale Umgang mit dem LPI lässt mich daran zweifeln, ob er überhaupt zu mehr nutz ist, als Panikmeldungen zu verkaufen. Der Zustand der Natur ist zu wichtig, als dass wir uns mit Statistiken ein Wissen vorgaukelten, das wir in Wirklichkeit gar nicht haben.
Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/cultureclash

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.10.2014)

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