22 Stunden

Die schreckliche Wahrheit, die Bürgermeister Häupl öffentlich eingestanden hat, könnte für uns ein Signal sein, unsere Prioritäten neu zu ordnen.

Als ich in einer internationalen PR-Agentur arbeitete, fragte ich einmal eine Londoner Agenturchefin, ob sie auch so überarbeitet sei wie ich. Früher einmal ja. Aber ihr Mann, ein Organisationsberater, habe ihr erklärt: „You are understaffed or incompetent.“ Entweder hast du zu wenig Leute, oder du bist inkompetent. Da hat sie ihren Arbeitsalltag umgestellt. Mir ist das eingefallen, als ich den Wiener Bürgermeister sagen hörte, dass er bis Dienstagmittag üblicherweise schon 22 Stunden gearbeitet hätte. Ich verstehe den Ärger der Lehrer über den unberechtigten Vorwurf der Faulheit. Aber im Grunde hat Häupl nur etwas über sich selbst gesagt: dass er überarbeitet ist.

Ist es nun so, dass er seinen Stab nicht ausreichend besetzen kann oder einfach zu langsam ist oder nicht delegieren kann? Das wären Zeichen von Inkompetenz. Oder möchte er vielmehr seine 15 Stunden am Tag arbeiten? Dann wäre er erst recht ein armer Hund. Und wir mit ihm.

Menschen brauchen Muße. Auch Verantwortungsträger. Urteilsvermögen, Kreativität, Weitblick, Güte werden in der Zeit der Reflexion gebildet, in der Muße. Im Gespräch mit Freunden. In der Freude an geliebten Menschen. In der Zeit mit einem Buch, einem Film, mit Musik oder der Stille. Eine US-Universität hat nachgewiesen, dass nichts den Geist so aufmöbelt wie der gute alte Spaziergang in der Natur. Das Wort der alten Griechen für Muße war scholé. Daraus ist „Schule“ entstanden. Scholé hieß auch die Sportlerbank im antiken Stadium: der Ort, an dem man nicht im Wettbewerb steht, sondern wartet, beobachtet, denkt, spricht, Eingebungen und Geistesblitze hat. Vielleicht läge auch die Antwort auf die Geldprobleme im Schulsektor weniger in einer Mehrarbeit der Lehrer, sondern in mehr Muße für die Schüler.

Gilbert K. Chesterton hat in seinem Essay über die „große Kunst, im Bett zu liegen“ festgestellt, dass nur eines schlimmer sei als die heutige Marginalisierung der Haupttugenden – und zwar die Hervorhebung von Nebentugenden. Für mich gehört da der Arbeitseifer dazu. Eine Tugend, aber eben nur eine kleine. In der Antike galt die Muße als das Ziel, dem die Arbeit zu dienen hatte. Die Erfolgreichen erkannte man an ihrem Übermaß an Muße, nicht am Arbeitspensum. Freilich gab es damals Sklaven für die Arbeit. Aber heute gibt es Maschinen. Wir hätten Zeit für Muße. Wir müssten sie uns nur nehmen.

Manchmal trifft einen das Los, und man muss 15 Stunden am Stück arbeiten. Dafür muss man sich nicht genieren. Aber rühmen auch nicht. Würde man auch damit angeben, öfter aufs Klo gehen zu müssen als andere?


Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/cultureclash

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2015)

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