Hafterleichterung

Will der Papst ein Gesetz, das Justizwachebeamte zum Weinen zwingt? Über die Missverständlichkeit kirchlicher Forderungen in unserer Zeit.

Das ist jetzt nicht die spannendste Ansage von Papst Franziskus, aber schönes Illustrationsmaterial, warum sich die katholische Kirche öffentlich oft so schwertut: In einer Audienz am Donnerstag hat sich der Papst für die Abschaffung lebenslanger Haftstrafen ausgesprochen und gemahnt, sich mehr um die Häftlinge zu kümmern: Man müsse ihnen „die Hand halten, sie umarmen und mit ihnen weinen“. Nur solche Nähe könne die Liebe Jesus Christi sichtbar machen.

Inhaltlich nichts, was jetzt heftige Reaktionen auslösen würde. Das Illustrative liegt in der Kombination zweier Aufforderungen von grundsätzlich unterschiedlichem Charakter: Wenn der Papst über das Ende von Lebenslänglich redet, wendet er sich mit einer Frage der Gerechtigkeit an die Gesellschaft. Mit der Aufforderung, Häftlingen die Liebe Christi sichtbar zu machen, wendet er sich hingegen mit einer Frage des Christseins an die Gläubigen.

Der Unterschied ist fundamental. Man stelle sich vor, ein Gesetz würde die Justizwache dazu verpflichten, zweimal pro Woche jeden Häftling zu umarmen sowie einmal im Monat mit ihm zu weinen. Bei anderen Themen fällt das nicht gleich so ins Auge. Etwa wenn Päpste oder Bischöfe über Familie und Sexualmoral reden: Wann sprechen sie von Maximen für eine menschengerechte Gesellschaft und wann von Geboten Christi an seine Jünger?


Vorschriften? Dieser Unterschied ist kein akademischer. Seine Verwischung führt dazu, dass Menschen – zumal in Ländern mit ehemaligem katholischem Kulturmonopol – den Eindruck haben, die Kirche möchte ihnen religiöse Gebote als allgemeinverbindlich aufdrängen: Jetzt bin ich extra ausgetreten, und die Kirche will mir immer noch Vorschriften machen!

Kirchliches Reden ist hier oft verschwommen. Die Basis beider Interventionen ist ja auch dieselbe: das christliche Menschenbild und die Vorstellung, mit der Offenbarung Christi verfüge die Kirche über so etwas wie eine authentische Gebrauchsanweisung für das menschliche Glück. Und in der Zeit einer „christlichen Gesellschaft“ hat man jahrhundertelang die Trennung zwischen Katholiken und Staatsbürgern nicht so scharf gezogen.

In der säkularen Gesellschaft ist das anders: Den Gläubigen gegenüber haben Papst und Bischöfe Autorität. (Wer die nicht will, für den hat es auch wenig Sinn, Kirchenmitglied zu sein.) Der Gesellschaft gegenüber können sie aber nur Vorschläge machen, sich am Diskurs beteiligen. Studierte Kirchenmänner denken gern, das sei ohnehin klar, ihnen und den anderen. Meiner Erfahrung nach ist das aber seltener der Fall, als man glaubt.
Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/cultureclash

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.05.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.