Unfaire Mütter

Ein britischer Philosoph appelliert an Sie: Denken Sie gelegentlich daran, wie unfair es ist, wenn Sie Ihren Kindern eine Gutenachtgeschichte vorlesen?

Ich habe kein Problem, Muttertagsidyllen zu vermiesen. Wir haben zu Hause nie Muttertag gefeiert. Meiner Mutter galt er, wie der 1. Mai, als Einführung der Nazis. Außerdem empfand sie ihn als Banalisierung und Verrührseligung einer Urberufung – und damit auch Urpflicht – der Menschheit, dem Muttersein. Darum habe ich keine Hemmung, Sie gerade heute mit Folgendem zu behelligen: Wenn Ihr Kind fehlerfrei ein Gedicht aufsagt, etwas wirklich Herzeigbares gebastelt hat oder sonstwie Ihr ganzer Stolz ist – dann haben Sie bitte ein schlechtes Gewissen. Sie Sozialschädling.

Ich folge hier dem britischen Philosoph Adam Swift, der das Zentrum für Soziale Gerechtigkeit der Universität Oxford leitet. Er untersucht, wodurch Kinder im Familienleben Vorteile fürs spätere Leben erhalten. Durch Gutenachtgeschichten etwa. Ein Satz Swifts findet derzeit im Internet rege Verbreitung: „Ich finde nicht, dass Eltern, die ihren Kindern Gutenachtgeschichten vorlesen, ständig daran denken sollten, dass sie damit die Kinder anderer Leute unfair benachteiligen, aber gelegentlich sollte ihnen das schon bewusst werden.“

Heute wäre eine gute Gelegenheit: Gehen Sie in sich! Gesundes Essen? Ausflüge mit der Familie? Ihr Mann geht mit den Kindern Ball spielen? Vielleicht sogar ein Musikinstrument? All das bringt andere Kinder unfair in Rückstand und verfestigt soziale Ungleichheit.

Adam Swift will allerdings Eltern nicht verbieten, ihren Kindern Gutes zu tun. Er ist pro Familie: Gut erzogen zu werden, liege im Interesse des Kindes, und Familien könnten dies gut. Und auch für das Wohlgefühl von Erwachsenen sei es positiv, als Eltern zu wirken. Daher ist Swift dafür, liebevolles Familienleben zuzulassen. Vorlesen produziere zwar Ungleichheit, aber eben auch Geborgenheit. Das gelte aber etwa nicht für Eliteschulen oder Erbschaften. Sie machen nur ungleicher.

Die Anmaßung der Swifts dieser Welt liegt in ihrer Prämisse: dass die Gesellschaft die Familie regieren soll. Dass eine Familie bloß eine Interessengemeinschaft ist, die von der Gesellschaft nur bei erwiesener Nützlichkeit zu akzeptieren ist. Dem gegenüber steht das Bild von Gesellschaft als dem, was nur hinzutritt, um zu schlichten und zu schützen – und zu ergänzen, wo jemand hintennach ist. Aber nicht, um aufzuhalten und wegzunehmen. Eine freie Gesellschaft muss mit Demut die Autonomie des Mutter-, Vater- und Kindseins, des Geschwisterseins anerkennen. Weil das eben nicht bloß eine nette Sache ist, die man im Dienst der Allgemeinheit ausübt, sondern jeglicher Gesellschaft vorausgeht.


Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2015)

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