Vernunft liegt in der Mitte

»Ana von uns – oder kana von uns«. Meine Mutter ist »ausgewandert«. Mein Vater war so etwas wie ein Wirtschaftsflüchtling. Was sie von heutigen Flüchtlingen unterscheidet, ist simpel und wesentlich.

Auswanderung ist keine Lösung“, hat Thilo Sarrazin in einem „Presse“-Interview gesagt, und eine Leserbriefschreiberin aus Tulln assistiert ihm: „Auch unsere Eltern sind trotz eines schrecklichen Krieges nicht davongelaufen.“ Meine schon.

Meine Mutter wurde nach dem Krieg mit ihrer Familie nach langen Fußmärschen auf der Ladefläche eines Lkw über die Grenze geschmuggelt. So wie sie (und auch die Mutter Sarrazins) sind während und nach dem Zweiten Weltkrieg allein in Europa mindestens 20 Millionen Menschen „davongelaufen“, nämlich geflohen oder vertrieben worden.

Mein Vater hingegen verhielt sich wie ein Wirtschaftsflüchtling: Er verließ seine Heimat, um in der Fremde bessere Perspektiven zu finden. Er emigrierte dabei zwar nur von einem niederösterreichischen Dorf nach Wien, aber die Motivation war die gleiche. Was meine Eltern von heutigen Flüchtlingen unterscheidet, waren nicht ihre Beweggründe, sondern nur der Umstand, dass sie wegen ihrer Sprache und Kultur vom neuen Umfeld – wenn auch zögerlich – als „welche von uns“ wahrgenommen wurden.

Das ist auch der Schlüssel unserer Flüchtlingskrise. Dazu gibt es zwei Radikalpositionen. Die eine hat ein Posting auf der „Presse“-Homepage auf den Punkt gebracht, in dem es sinngemäß hieß: Wenn ein Vertreter einer Gruppe einer anderen Gruppe Vorteile verschafft, die sich nachteilig auf die eigene Gruppe auswirken (und das sei bei der Masseneinwanderung der Fall), dann sei er kein guter Mensch, sondern ein Verräter. Eine solche Haltung, in Europa weit verbreitet (wenn auch nicht immer so klar benannt), ist Ausdruck von Gruppenegoismus – „Wir zuerst!“ –, der eine auf Mitmenschlichkeit beruhende Solidarität ablehnt. Daher führt er letztlich zum Recht des Stärkeren, bei dem auch die schwachen Egoisten unter die Räder kommen. Was man bewahren wollte – eine Gesellschaft, in der man geborgen ist –, macht man sich selbst kaputt.

Den Gegenpol haben 100 Schweizer Theologen formuliert: das freie Niederlassungsrecht aller und überall. Auch diese Position zerstört, was sie schaffen will: Perspektiven für ein besseres Leben. Denn ein funktionierendes Gemeinwesen benötigt ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl als allein den Respekt vor dem Mitmenschen. Geht das bei einem zu hohen Veränderungstempo verloren, gibt es gar keine Perspektiven mehr, für niemanden.

Banaler Schluss: Die Vernunft liegt in der Mitte. Veränderung der Bevölkerung ist das Normale. Es kommt darauf an, sie zu gestalten, ohne Menschlichkeit und Maß zu verlieren.
Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.