Europas eigentliche Totengräber sind wir

Die Flüchtlinge sind vielleicht in Traiskirchen eine Übermacht - aber nicht in Europa. Wenn jemand unsere Kultur gefährdet, dann sind das wir Europäer selbst.

Ein großer Saal, 1000 Menschen plaudern friedlich. 980 schauen in etwa gleich aus, die restlichen 20 wirken etwas fremd. Da geht die Tür auf, die Konversation verstummt, alle Blicke richten sich türwärts – denn dort stehen ganze zwei ärmliche Gestalten, die hereinwollen. Große Panik: „Aufhalten, sonst sind es nächstes Jahr schon vier! Und das hält keiner aus.“

Die Größenordnung stimmt. Heuer werden bis zu 1,2 Millionen Asylwerber erwartet – das entspricht ganzen 2,3 Promille der EU-Bevölkerung. Und selbst wenn wir morgen alle vier Millionen muslimische Syrer aufnähmen, die nach Jordanien, in die Türkei und den Libanon geflohen sind, würde der Anteil der Muslime an der europäischen Bevölkerung nur von 6,0 auf 6,7 Prozent steigen.

Derzeit gängige Formulierungen wie „Europa wird geflutet mit Afrikanern und Orientalen“ (die Journalistin Eva Herman) entsprechen also kaum einem nüchternen Blick auf die Tatsachen. Und wer die europäische Kultur angesichts dieser Zahlen für todgeweiht hält, stellt ihr (und sich) kein gutes Zeugnis aus. Frei nach Asterix: „Zwei Gallier, die in der Überzahl waren, haben uns überwältigt!“

Natürlich greifen meine Zahlenbeispiele zu kurz. Die Dynamik der Zuwanderung und ihre ungleiche Verteilung sind durchaus ernst zu nehmen. Es gibt ja auch eine namhafte legale Wanderung in die – und innerhalb der – EU. Und wenn die bis jetzt so hilfreichen Abschiebungen, schlagstockschwingende Grenzpolizisten und das Sterben im Mittelmeer niemanden mehr abschrecken, könnte ein noch viel stärkerer Einwanderungssog entstehen.

Aber wie viele würden kommen? Gallup hat vor drei Jahren auf der ganzen Welt repräsentativ umgefragt, wer sein Land gern verlassen würde und wohin man gehen würde: 13 Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung würden sich gerne aufmachen – 630 Millionen Menschen, 60 Millionen davon nach Europa. Wenn die alle kämen – DAS wäre eine echte Herausforderung. Aber Gallup hat auch ermittelt, dass zum Beispiel die Hälfte aller Leute in Illinois in einen anderen US-Staat auswandern möchte, und bislang ist dort der Massenexodus ausgeblieben.

Wie viele kommen, kann man also nicht sagen. Sicher ist nur, dass die Zahl davon abhängt, wie elend die Zustände in Auswanderungsgebieten sind. Und dort könnten wir auch was tun, was mehr Sinn hätte, als wegen jeder neuen Kommastelle flutender Orientalen „Untergang!“ zu schreien. Wenn Europa den derzeitigen Ansturm nicht bewältigen kann, dann nicht, weil dieser so groß ist, sondern weil wir zu schwach sind. Das hieße: Europas eigentliche Totengräber sind nicht die, sondern wir.

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.09.2015)

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