Flüchtlingsmathematik

Entspricht die grassierende Angst vor den Folgen der gegenwärtigen Massenzuwanderung der tatsächlichen Gefahr?

Auf meine letzte Kolumne hier habe ich eine interessante Zuschrift erhalten: „Glauben Sie eigentlich, was Sie da schreiben?“ Was hatte ich geschrieben? Dass der für heuer erwartete Flüchtlingsstrom nach Europa nur 2,3 Promille der EU-Bevölkerung beträgt. Und dass selbst ein – derzeit illusorischer – Zuzug von vier Millionen Moslems den Anteil der islamischen Bevölkerung Europas nur von 6,0 auf 6,7 Prozent anheben würde. Das ist Mathematik, natürlich glaube ich daran.

Noch mehr Mathematik – etwa zum islamistischen Terror: Man kann sich vor ihm fürchten, muss aber nicht. In den letzten 15 Jahren wurden insgesamt 280 Menschen in der EU von muslimischen Terroristen getötet. Im gleichen Zeitraum hat es in der EU 550.000 Verkehrstote gegeben, aber nur wenigen von uns schlottern deswegen die Knie, wenn sie sich auf die Straße wagen. Klarerweise muss Europa Vorkehrungen gegen den Terror treffen. Aber angesichts der extremen Unwahrscheinlichkeit, Terroropfer zu werden, ist unsere Angst davor überproportional. Und dass wir eine Minderheit in einem muslimischen Europa werden? Die neueste Prognose (Pew, 2015) sagt uns, dass der Anteil der Muslime in Europa bei Zuwanderung wie bisher bis 2050 auf 10,2 Prozent ansteigen wird. Selbst wenn wir wegen der Flüchtlingswelle 35 Jahre lang jährlich zusätzlich eine Million Muslime in Europa aufnähmen – mehr als selbst derzeit kommen –, stiege die Islam-Quote zur Jahrhundertmitte auf 18 Prozent. Klingt das nach Burka-Pflicht?

Der Flüchtlingsstrom bringt also zahlenmäßig keine gravierende Änderung des Status quo – was aber nicht heißt, dass Europa ihn automatisch verkraften wird. Wenn etwa die EU den Zuzug nicht halbwegs gleichmäßig verteilen kann und alle nur nach Deutschland, Schweden und Österreich kommen. Und wenn die EU weiterhin so tut, als könnte sie kontrollierte Einwanderung (und nur eine solche wird funktionieren) und die anschließende Integration so einfach nebenher erledigen und aus der Portokassa finanzieren.

Die meisten Menschen, die mit mir darüber reden, verbinden Hoffnung und Sorge: Europa habe nicht nur die Wahl zwischen Stacheldraht mit Tränengas und unkontrolliertem Hineinlassen. Es könne bei entsprechendem Einsatz Menschlichkeit hochhalten, ohne sich preiszugeben. Aber man müsse schon etwas tun und aufpassen. Diesen Ansatz halte ich für realistisch. Aber manche begegnen mir, die beim Thema Migration einfach nur zumachen, in jeder Hinsicht. Ihren festen Glauben an unseren drohenden Untergang und die Mittäterschaft der Zuwanderer erschüttert auch keine Mathematik.


Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.