Das Leiden der jungen Werte

(c) Clemens Fabry
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»Europa muss seine Werte verteidigen!« Ja, eh. Aber warum gegen die Terroristen? Und welche Werte meinen wir genau und in welcher Reihenfolge?

Ich glaube nicht, dass wir gegen den islamistischen Terror unsere Werte verteidigen müssen. Wir müssen uns verteidigen. Punkt. Manchmal höre ich, dass wir nur mit der Würdelosigkeit unserer Gesellschaft, mit ihrer Pornografie und ihren Loveparaden, Schluss machen müssten, dann würden uns die Muslime wieder achten. Das könnte zwar den Anreiz für manche Muslime erhöhen, sich in unserer Kultur zu integrieren, aber es würde uns den Krieg gegen den Islamismus nicht abnehmen.

IS und Konsorten kämpfen gegen alle, die nicht glauben wie sie. Ihr Inbegriff vom feindlichen Europa ist das christliche Abendland, nicht der pluralistische Westen. In ihren Kampfansagen reden sie typischerweise von den „christlichen Nationen“ und von den Kreuzen, die sie zerbrechen werden. Ihr Zeichen des Endsiegs ist nicht die niedergebrannte Schwulendisko, sondern die Fahne des Propheten auf dem Petersdom.

Es ist interessant, dass die christliche Identität Europas in den Köpfen der Islamisten viel selbstverständlicher ist als in der Selbstwahrnehmung der Europäer. Diese sehen vor allem zwei relativ junge und wesentlich weltlichere Merkmale, die Europa gegen die muslimischen Kulturen abgrenzen: zum einen die Pluralität, also das Nebeneinander unterschiedlicher Wertvorstellungen, die keine Dominanz anstreben dürfen. Und zweitens die gesellschaftliche Irrelevanz des Geschlechts – die sich in der Gleichstellung von Männern und Frauen wie von Hetero- und Homosexualität äußert.

Beide Werte stehen mitunter im Widerspruch und können auch doktrinäre Züge entwickeln, sind daher nicht gleichbedeutend mit dem schlichteren, aber auch wesentlicheren Wert der persönlichen Freiheit. Ein harmloses Beispiel: Wenn ein Muslim in Europa aus religiösen Gründen einer fremden Frau nicht die Hand geben will (damit er nicht in Versuchung gerät) – soll er in Anwendung von Wert zwei (Irrelevanz des Geschlechts) zum Händedruck gezwungen werden, oder lässt man ihn wegen Wert eins (Pluralität) gewähren?

Oder das Verschleiern: Soll eine Frau die Freiheit dazu haben, wenn sie es will? Klassische Antwort: Ja, aber nicht, wenn es Ausdruck der Unterwerfung ist! Rückfrage: Soll eine Frau die Freiheit haben, sich zu unterwerfen, wenn sie das will? Diese Frage ist in Zeiten von „Fifty Shades of Grey“ nicht so weit hergeholt.

Werte muss man immer innerhalb einer Gesellschaft verteidigen. Sie wären klarer zu fassen und dann auch zu verteidigen, wenn für sie nicht der körperlose Pluralismus, sondern ein gemeinsames Menschenbild maßgeblich wäre. Aber woher nehmen? Dazu mehr in der nächsten Folge.

Der Autor war stellvertretender Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.11.2015)

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