Mein Tiefpunkt 2015

Die EU wird zum Hochsicherheitskindergarten: 300.000 Jahre nach der Zähmung des Feuers muss Brüssel uns erklären, dass eine Flamme heiß ist.

Der Ehrenpreis 2015 für das schlechteste Timing gebührt der EU-Bürokratie. Als im Spätherbst die Flüchtlingskrise ihrem Höhepunkt zustrebte und alle über die bange Frage diskutierten, ob die Union daran zerbrechen werde, untermauerte Brüssel die Vitalität des europäischen Einigungsgedankens mit einem Verordnungsentwurf über Kerzensicherheit.

Der Spott darüber war zum Teil unangebracht. Ja, die Verordnung enthielt die üblichen Stilblüten („Kerze für den Innenbereich ist eine Kerze, die für den Gebrauch in einem Innenraum bestimmt ist“), aber Sicherheitsnormen vereinfachen Haftpflichtfragen. Und Höchstwerte für Blei und Nickel in der Kerze haben wohl auch ihren Sinn.

Aber ein Teil dieser Verordnung ist dennoch eine Niederlage des freien Menschen – umso mehr, als er typisch ist. Nämlich die Vorschriften zur Gefahrenkennzeichnung. Wir Menschen haben nun schon seit 300.000 Jahren alltäglichen Umgang mit offenem Feuer, trotzdem sollen die Europäer künftig nur noch solche Kerzen und Kerzenhalter angeboten bekommen, die „Anweisungen für die sichere Verwendung, einschließlich der Verwendungsbedingungen sowie der beim Abbrennen von Kerzen zu ergreifenden Vorsichtsmaßnahmen“ enthalten.

Wir sind nämlich mittlerweile zu blöd, um zu wissen, dass Kinder Kerzen umwerfen können (verpflichtender Warnhinweis: „Kerzen nicht in Reichweite von Kindern abbrennen“), oder dass Feuer um sich greifen kann („Kerzen nicht auf oder in der Nähe von leicht entflammbaren Gegenständen abbrennen“).

Kerzen werden demnächst also wohl nur noch mit ausführlicher Gebrauchsanweisung erhältlich sein, in der „jede vernünftigerweise vorhersehbare Fehlanwendung des Produkts in Betracht gezogen werden“ muss. Da das Bekleckern mit heißem Wachs auch zum Standardrepertoire ausgeleierter Sexualbeziehungen gehört, also „vorhersehbar“ ist, könnten solche Gebrauchsanweisungen ziemlich pikant ausfallen.

Man kann das alles als überschießenden bürokratischen Eifer belächeln. Nicht lustig ist aber die dahinterstehende Annahme eines unselbstständigen Dumpfmenschen, zu dessen Bemutterung Europa zum Hochsicherheitskindergarten umgestaltet wird. So ist Europa natürlich mit einem Flüchtlingsansturm überfordert (ich weiß von einer Wohnung, die nicht für Asylwerber freigegeben wurde, weil die Schwelle zum Badezimmer zu hoch war).

Wenn Warnhinweise nichts nützen (was mit Sicherheit der Fall sein wird), wird man wohl verbieten müssen. Darum genießen Sie zu Sylvester Ihr Feuerwerk! Wer weiß, wie lang Sie es ohne Pyrotechnikerprüfung noch abbrennen dürfen.
Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.12.2015)

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