Venus im Pappkarton

Auf einmal ist es in Europa unmoralisch, Nackte zu verhüllen - und sei es auch nur für eine halbe Stunde. Die Aufregung um Roms Statuen ist beunruhigend unsouverän.

Ich glaube, es war der katholische Verleger Theophil Herder-Dorneich († 1987), dessen Bücherschrank ein Fries zierte, auf dem ein biblisches Thema mit auch nackten Menschen dargestellt war. Kamen zarter besaitete Besucher, so verhüllte er den Fries mit einem extra dafür angebrachten Vorhang. War das Verrat an seiner Kultur, vorauseilende Unterwerfung – oder bloß der Versuch, Rücksicht auf Gäste zu nehmen?

Die Verhüllung von Statuen auf dem Weg des iranischen Präsidenten Rohani im römischen Kapitol hat in Europa eine pikierte Entrüstung ausgelöst, die unserem Selbstbewusstsein ein schlechteres Zeugnis ausstellt als die Verhüllung selbst. Die eigentliche Frage wäre doch: Ist unsere Bereitschaft, bei Rohanis Atomrüstung, Menschenrechtsverletzungen und Syrien-Engagement ein Auge zuzudrücken und so Milliardendeals zu lukrieren, der gute Versuch, einen Schlüsselspieler im Mittleren Osten zu zähmen – oder zahlen wir damit dem Henker nur unseren eigenen Strick? Stattdessen regt man sich über die kapitolinische Venus auf. Als ob antike Standbilder künftig nur noch in der Burka aus dem Haus dürften. Rohani hat die von ihm gar nicht begehrte Verhüllung so gedeutet: Den Italienern sei es einfach wichtig, dass sich ihre Gäste wohlfühlten. Das wird wohl wirklich das Motiv irgendeines Protokollchefs gewesen sein, der nun zittert, dass ihm seine Höflichkeit, zur kulturellen Selbstpreisgabe stilisiert, auf den Kopf fällt.

Rücksichtnahme auf Gäste und was ihnen peinlich sein könnte, ist Teil unserer Kultur. „Tja, wenn es Sie stört, dass ich abends gerne in Unterhosen herumlaufe, hätten Sie eben nicht zum Dinner kommen sollen“ – das ist unsere Sache nicht. Dabei hätte Rohani, einst Student in Glasgow, den Anblick marmorner Rundungen wohl verkraftet. Aber prinzipiell geht bei der Rücksicht auf das Schamgefühl anderer auch das Argument ins Leere: Wir passen uns dort ja auch an – also sollen sie sich hier uns anpassen. Dass der Robustere Rücksicht nimmt auf den Verletzlicheren, ist eine Sache der Ritterlichkeit, nicht der Reziprozität. Kein Zeichen der Unterwerfung, sondern der Souveränität.

Natürlich gibt es eine Grenze zwischen Taktgefühl und dem Bestreben, sich, sagen wir, in den Mastdarm eines wichtigen Gastes vorzuarbeiten. Dass Premier Hollande ein Staatsbankett mit Rohani im November ausfallen ließ, weil dieser keinen Wein auf dem Tisch akzeptiert hätte, fand ich stark. Aber zu tun, als wäre ausgerechnet eine halbstündige unverlangte Statuenverhüllung der Auftakt zum Untergang des Abendlandes, ist beunruhigend unsouverän.
Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.01.2016)

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