700.000 Hells Angels

Warum unser Blick auf die Flüchtlinge viel damit zu tun hat, ob sie später einmal unsere Welt radikal ablehnen – oder lieber ins Wochenendhaus fahren.

Der US-Satiriker P. J. O'Rourke ist ein selten gewordener Typus: ein geistreicher Republikaner. Vor Jahren hat er einmal erklärt, wie er den Terrorismus bekämpfen würde – nicht durch mehr Polizei, sondern durch mehr Wohlstand: „Ich möchte eine Welt, in der Osama bin Laden ein Mitglied einer Schläferzelle anruft, jemanden, der vor vielen Jahren als unauffälliger Bürger in die USA geschickt worden ist. Und ich möchte, dass der Mann am Telefon sagt: ,Osama, schön von dir zu hören! Paris in die Luft jagen, am Donnerstag? Tja, Osama, an sich gern, aber am Donnerstag hat unsere Kleine Ballettaufführung. Wenn man da zu spät kommt, verzeiht sie das nie. Freitag? Geht auch nicht. Ich muss meine Mutter zu ihrer Bermuda-Kreuzfahrt bringen. Es ist Fatimas Yogatag. Ich habe ein großes Golfturnier im Klub. Und Samstag ist ausgeschlossen, wir fahren übers Wochenende in die Hamptons.‘“

Echte Terroristen kann man wohl eher selten durch Wohlstand entradikalisieren. Aber bei Migranten, die wegen einer besseren Lebensperspektive da sind, nimmt ein attraktiver, integrierender Way of Life dem Fanatismus die Luft. Umgekehrt wird Radikalität befeuert, wenn Menschen in ihren Hoffnungen betrogen, in ihrer Würde gekränkt werden. Wenn man sie verachtet und sie das spüren lässt. Wenn sie im Hinterhof des Reichtums selbst im Dreck verharren müssen. Wer keine Anerkennung gewinnen kann, hat nichts mehr zu verlieren. Und wer von vornherein als Gewalttäter angesehen wird, hat gute Chancen, einer zu werden.

Da geht es nicht nur um die psychologischen Folgen der vielen Facetten der europäischen Lieblingspolitik der Flüchtlingsvergrämung. Es geht auch um den abschätzigen Blick. Der „Spiegel“-Redakteur Thilo Thielke schrieb kürzlich: „Die wenigsten Deutschen haben die ihnen angedichtete diffuse Angst vor den Fremden. Ihnen ist unwohl angesichts der vielen auf Krawall gebürsteten Jungmänner aus dem arabischen Raum – so wie ihnen unwohl wäre, wenn man 700.000 Hells Angels oder Anhänger der Borussenfront in ihrer Nachbarschaft ansiedeln würde.“ Spricht aber nicht aus genau diesem Bild diffuse Angst? Jeder männliche Flüchtling ein jugendlicher Schläger.

Schubladisierung reduziert die Komplexität des Problems und verheißt dadurch einfache Lösungen. Aber sie vernebelt die Realität. Flüchtlinge sind nicht ganz gut oder ganz böse, sondern vielfältige Menschen. Bei den meisten ist die Hoffnung auf ein Leben in Würde zunächst größer als ihre Frustration. Man kann das negieren – oder darauf aufbauen. Letzteres halte ich für das aussichtsreichere Friedensprojekt.


Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/cultureclash

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2016)

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