Gespaltenes Volk

Der Wahlkampf war unerfreulich. Aber das ist auch ein Zeichen der Erneuerung. Denn je echter eine Demokratie ist, desto weniger kuschelig ist sie.

Vielleicht ist die Aufregung all jener, die mir in den vergangenen Tagen ungefragt ihr Wahlverhalten zur unbedingten Nachahmung unter die Nase gerieben haben, ja berechtigt. Aber manchmal hatte ich schon das Gefühl, die Wähler spalten mehr, als es die Kandidaten tun. Vielleicht ist das ja auch normal. Wenn sich Leben in einzementierten Systemen regt, bildet das Spalten.

Und das Wesen der Demokratie ist nun einmal – möglicherweise haben wir das ein wenig aus den Augen verloren – nicht die Ruhe, sondern der Streit. Demokratie beruht darauf, dass Autorität permanent neu erkämpft werden muss. Das ist nicht kuschelig. Besonders dann, wenn alte Machterhaltungsstrategien nicht mehr wirken und daher die Beute vor der Neuverteilung steht.

Vielleicht kommt manche Unentspanntheit auch daher, dass 61 Prozent der Wahlberechtigten bei dieser Stichwahl für einen Kandidaten stimmen müssen, den sie schon beim ersten Mal nicht unbedingt wollten. Und schon beim ersten Mal waren rund die Hälfte jener, die für Hofer und Van der Bellen gestimmt haben, auch nicht traditionelle Blau- oder Grünwähler. Hinter den beiden Kandidaten stehen keine Lager mehr, sondern Sammelsurien von Anliegen und Ängsten, die neue Frontlinien ergeben. Ich verfolge etwa mit gewissem Staunen, mit welch felsenfester Überzeugung manche katholischen Freunde eine Debatte darüber führen, welcher Kandidat der einzig wählbare sei. Noch nie gab es so enthusiastische katholische Vereinnahmung von zwei Kandidaten, die beide keine Vorzeigekatholiken, ja nicht einmal Katholiken sind.

Alles ist in Bewegung. Und das ist gut: Das Bewusstsein kehrt zurück, dass es bei Wahlen um mehr geht als nur darum, dass das eigene Lager gewinnt. Dass Politik Konsequenzen hat. Dass einem niemand die Entscheidung abnimmt, wer „mein“ Kandidat ist. Und dass man die eigene Agenda bei keinem Kandidaten vollständig wiederfindet. Der Verlust alter Parteibindungen und die – heute über Facebook & Co. ungehemmt mitteilbare – Suche und Findung neuer Verortungen, Loyalitäten und Widerstandshaltungen sind der Weg, wie sich Demokratien erneuern. Denn das Wesen der Demokratie ist nicht die Ruhe, sondern der Streit.

Streit aber ist auf Dauer nur erträglich, wenn der Stil passt. Darum ist nicht nur wichtig, was jemand vertritt, sondern auch, wie. Das betrifft nicht nur Kandidaten und Parteien, sondern auch das Wahlvolk und die Medien, auch die öffentlich-rechtlichen. Die Bundespräsidentenwahl als Generalprobe legt uns ans Herz, noch fleißig am Stil zu arbeiten, bevor es 2018 um das Ganze geht.

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/cultureclash

(Print-Ausgabe, 22.05.2016)

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